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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich
Autoren: Natalie Angier
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theoretische Terrain mit höchster Vorsicht beschreiten, wirkt es doch nur allzu leicht unsensibel oder oberflächlich, wenn man Selbstmord oder Depressionen dem Wirken der natürlichen Selektion zuschreiben will. Psychiater haben lange und hart darum gekämpft, die Allgemeinheit dahin zu bringen, psychische Erkrankungen als organische Störung und nicht als Schwäche oder Charakterfehler zu betrachten. Und so zögern die meisten von ihnen sehr, mit so etwas wie Depressionen anders umzugehen als in höchst krankheitsorientierter Weise - sie sehen sie als die Krebs-oder Diabetesversion des Geistes. Wissenschaftler wissen zu gut, wie leicht eine darwinistische Erklärung für eine komplexe Verhaltensweise überzogen und übertrieben vereinfacht ausfällt.
    Gewiss wurde das, was die sehr viel einfacher als wir Menschen strukturierten Tiere tun, in der Vergangenheit oft missinterpretiert. Der Verweis auf Selbstmord bei nicht menschlichen Arten ruft beispielsweise unweigerlich den berühmten Fall der Lemminge ins Gedächtnis - jener Nagetiere, von denen man lange Zeit hindurch angenommen hat, dass sie Massenselbstmord verüben, indem sie sich ins Meer stürzen, als habe ihnen eine gruppeneigene Uhr mitgeteilt, dass heute ein guter Tag zum Sterben sei. Neuere Forschungen ergaben jedoch, dass an der Geschichte von den lebensmüden Lemmingen gar nichts dran ist. Die lohfarbenen, pummeligen Pelztiere sterben tatsächlich in Gruppen, aber das ist das Ergebnis einer Fehleinschätzung. Lemminge sind die Heuschrecken unter den Säugetieren und fressen ein Gebiet ratzekahl leer. Dann machen sie sich auf den Weg, um neue Fressgründe aufzutun. Sie schwärmen aus, klettern über Felsen, Bäume und alles, was ihnen im Weg steht. Wenn sie an ein Gewässer gelangen, durchqueren sie es schwimmend - eine Praxis, die bei Flüssen und Teichen gut funktioniert. Wenn sie allerdings auf einen großen See oder ein Meer stoßen, geht ihnen zu spät auf, dass ihr Gepaddel dafür nicht ausreicht.
    Oftmals ist nicht klar, ob ein Tod in freier Wildbahn Absicht oder Zufall ist. Manche Verhaltensforscher haben Modelle entwickelt, die beispielsweise vorhersagen, dass ein schlüpfendes Küken in einem größeren Gelege vom Standpunkt seines genetischen Erbes aus betrachtet unter bestimmten Umständen besser dran ist, wenn es sich von seinen Geschwistern umbringen lässt, als sich zu wehren. Bei den Felsenpinguinen legt das Muttertier beispielsweise stets zwei Eier pro Saison, ein großes und ein kleines. Angesichts der Unerbittlichkeit ihrer arktischen Umgebung kann sie nur einen Vogel großziehen und in die Unabhängigkeit entlassen, und in der Regel stammt der Glückspilz aus dem großen Ei. Dennoch legt sie das zweite als eine Art Versicherung für den Fall, dass das erste irgendeinem Räuber zum Opfer fällt. Sollten beide Eier es bis zum Schlüpfen schaffen, täte der kleinere Vogel theoretisch am besten daran, sich von seinem größeren Geschwister ohne langes Hin und Her töten zu lassen, sich quasi in dessen Schwert zu stürzen. Schließlich können kaum beide überleben, warum also dem mit den größeren Erfolgschancen Ressourcen vorenthalten?
    Die Theorie kann mit einigen Beobachtungen aufwarten, die ihre Argumente stützen: Bei Begegnungen zwischen Pinguingeschwistern scheinen die kleineren tatsächlich klein beizugeben, ohne irgendwem eine Feder zu krümmen. Kritiker dieser These kaufen deren Befürwortern jedoch nicht ab, dass der kleinere Wettbewerber sich sanftmütig in sein Schicksal ergibt. Wenn beispielsweise, so ihr Einwand, ein ganz normaler Durchschnittstyp mit Mike Tyson ein Rettungsboot und eine sehr beschränkte Nahrungsmenge zu teilen hätte, dann wäre es überaus töricht von dem Nichtboxer, Tyson zum Kampf herauszufordern. Vielmehr würde sich der kleine Kerl höchstwahrscheinlich mucksmäuschenstill verhalten und auf eine Gelegenheit warten, um den anderen über Bord werfen zu können, oder einfach darum beten, dass Tyson der Blitz trifft.
    Im Allgemeinen bezeichnen Wissenschaftler einen Tod nur dann als Selbstmord, wenn das Tier von diesem Schritt in reproduktiver Hinsicht viel zu gewinnen und wenig zu verlieren hat. Einigen Biologen zufolge gehören in diese Kategorie auch gewisse seltsam gefärbte Schmetterlinge, die sich dem Gefressenwerden dadurch entziehen, dass sie sich ihrer Umgebung perfekt anpassen. Sobald ein erwachsenes Tier seinen reproduktiven Zenit überschritten hat, wird es für seinen Nachwuchs zum
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