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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich
Autoren: Natalie Angier
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Status schlagartig sinkt. Alles Ereignisse, die auch beim Menschen Depressionen auslösen können. Überdies zeigen die depressiven Affen in ihrer Hirnchemie einige derselben Veränderungen, die man auch bei menschlichen Patienten beobachtet, unter anderem einen starken Abfall des Norepinephrinspiegels.
    Depressionen haben ihren Ursprung somit in früheren Tagen der Evolution, weit vor dem Auftauchen der Hominiden. Vielleicht hatten sie eine Art Schutzfunktion. Sie erlaubten es Menschen und anderen Tieren mit höher entwickelten kognitiven Fähigkeiten, ihre Situation zu beleuchten, darüber nachzudenken, wie ihre Taktik aufgegangen oder sich gegen sie selbst gewendet hat, und einen Weg zu finden, die Wiederholung kostspieliger Fehler zu vermeiden. Andererseits könnten Depressionen aber auch die unausweichliche Kehrseite einer Persönlichkeit sein, die sich in guten Zeiten ungemein auszahlt. Im Fall der Rhesusaffen stehen gerade die für Depressionen anfälligen Tiere aufgrund ihrer erhöhten sensorischen Fähigkeiten und ihrer erhöhten emotionalen Sensitivität häufig an der Spitze der sozialen Hierarchie. Sie nehmen kritische Veränderungen ihrer Umgebung - das Geräusch eines sich nähernden Räubers, die vorsichtigen Annäherungsversuche eines möglichen Verbündeten - deutlicher wahr als ihre Artgenossen. Sie sehen, hören und riechen alles. Sie gleichen den straff gespannten Saiten einer wundervollen Violine. Werden sie zu stark beansprucht, reißen sie.

40.
Nur ein Körnchen Sand
     
     
    Ich glaube nicht, dass es so etwas gibt wie eine gute Art zu sterben. Für mich ist der Tod eine obszöne Verschwendung: Man verbringt sein Leben damit, Aufgaben zu meistern, Wissen und Meinungen zu kultivieren, Stück für Stück den Bogen herauszukriegen, wie es sich mit dem eigenen Körper und Hirn leben lässt, und dann muss all das dran glauben, um Platz zu machen für das neueste Modell, das aus dem Hintergrund die Szene betritt. Die Natur ist eine verwöhnte Göre, die einen permanenten Nachschub an neuen Spielsachen benötigt. Wie also kann man gut sterben, wenn der Tod eine solche Zumutung ist?
    Doch wenn es jemanden gibt, von dem ich sagen kann, er sei mit Stil gestorben - einem Stil zudem, der seiner zappeligen, sorglosen, extravaganten Persönlichkeit absolut entsprach - , dann war dies Rodney Holmes, seit meinem vierten Lebensjahr ein Freund meiner Familie. Rod starb rasch und katastrophal - binnen weniger Tage, nachdem er sich eine Lungenentzündung zugezogen hatte, die so schwer war, dass er darüber ins Koma fiel. Die Ärzte versuchten, ihn ins Leben zurückzuspritzen. Sie probierten jedes Antibiotikum in ihrem Medikamentenschrank, doch er erlangte das Bewusstsein nie wieder. Er siechte nicht dahin, welkte nicht allmählich - er reagierte einfach nicht. Nicht allzu lange vor seinem Tod hatte ich ihn in einem Fitness-Center getroffen, und er wirkte gesund und munter. Doch als er ins Krankenhaus kam, lag seine T-Zellen-Zahl bei fünfundzwanzig, normale Werte liegen bei um die eintausend. Rod starb an den Folgen von Aids, aber er hatte nie gewusst, dass er mit HIV infiziert gewesen war. Er wusste es nicht, weil er es nicht wissen wollte.
    Ich vermute, dass es zwei Gründe für Rod gab, sich nicht um seinen HIV-Status zu kümmern. Der eine ist, dass er sich selbst kannte. Er wusste, dass er kein Kämpfer war, kein Herausforderer, kein Mann, der aufsteht und sich lautstark Gehör verschafft. Er war nicht der Typ, der die medizinische Literatur durchforsten und sich mit jedem neuen Präparat vertraut machen würde, das auch nur ein Fünkchen Hoffnung versprach. Er hatte vielmehr den Hang -  den ich im Übrigen nur allzugut kenne - , Probleme zu ignorieren, um mit ihnen fertig zu werden. Wenn das Unglück auf deiner Schwelle steht, schlag ihm die Tür vor der Nase zu. Wenigstens verschafft dir das ein bisschen Raum zum Luftholen, während das Unglück versucht, dein Schloss zu knacken. Eine Krankheit wirksam zu bekämpfen erfordert einen peinlich genau organisierten Plan für das eigene Leben, und Rod hatte alles, bloß das nicht. Er war ein Holterdipolter und Schmierenkomödiant. Als Innenausstatter und Schreiner war er brillant, aber wenn er an einem Projekt arbeitete, versuchte er es dermaßen schnell hinter sich zu bringen, dass er Ecken unbearbeitet und Kanten ungestrichen ließ und manchen Nagel vergaß. Einer Krankheit entgegenzutreten verlangt auch ein gewisses Maß an Selbstvertrauen, und Rod lebte
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