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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich
Autoren: Natalie Angier
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und Tod zwischen den Verdammten und den zum Heil Bestimmten. Seine Trunksucht, sein seltsames Aussehen, seine stachelige Persönlichkeit und sein unregelmäßiges Einkommen ließen Rod ohnehin ein Leben im Abseits, am Rand der Gesellschaft führen, und so brauchte er nicht noch ein weiteres Stigma, das ihn einsam machte. Rod ignorierte die Aids-Epidemie, soweit dies einem New Yorker Schwulen überhaupt möglich ist. Er hatte nicht viele schwule Freunde, also musste er auch nicht auf viele Beerdigungen. Als er seinen jungen Geliebten bat, zu ihm zu ziehen, scherte Rod sich keinen Deut um dessen Krankengeschichte – um seine HIV-Infektion und seine Tuberkulose. Er war bis über beide Ohren verliebt, er war verrückt vor Liebe, und nur darüber wollte er reden.
    Damals hielt ich Rod für einen Narren, weil er seine Gesundheit so leichtsinnig aufs Spiel setzte, doch wenn ich die Ereignisse im Rückblick betrachte, glaube ich, dass er bereits infiziert war, als der junge Mann in sein Leben trat. Vielleicht ahnte er es selbst, doch wenn dem so war, so unternahm er trotzdem nichts – kein AZT, kein ddI, kein Pentamadin-Aerosol gegen seine Lungenentzündung. Das Resultat seiner Weigerung, Aids zur Kenntnis zu nehmen oder irgendwelche Medikamente zu schlucken, die dessen Verlauf hätten verlangsamen können, war, dass Rod im Jahr 1993 so starb wie die Opfer am Beginn der Epidemie, als die Ärzte überhaupt noch nicht wussten, was sie sahen. Er ging nicht allmählich, Stück für Stück. Aids kam und verschlang ihn mit Haut und Haaren.

41.
Die Furcht einer Enkelin
     
     
    Ich redete eines Spätnachmittags mit einem Kollegen über ein paar berufliche Dinge, als der erste Anruf kam. Die Stimme am anderen Ende klang so laut und angsterfüllt, dass mein Kollege sie ebenfalls hören konnte und mich erschrocken ansah. »Natalie, bist du es?«, rief meine Großmutter. »Natalie, du musst mir einen Gefallen tun!« Ich deckte die Hand über die Hörermuschel. »Was ist passiert, Großmama?« Sie fing an zu weinen, ihre Stimme überschlug sich, sie rang nach Luft. Sie erzählte mir, dass sie seit zwölf Uhr allein sei – fünf ganze Stunden! – und dass sie vor zehn Uhr abends keinen Besuch erwarte. Sie könne es nicht ertragen. Sie sei dabei, durchzudrehen. Alle hätten sie allein gelassen, und sie habe solche Angst: Sie habe wirklich jeden angerufen – ihren Sohn (meinen Onkel), ihren Stiefsohn, ihre Enkel. Und nun mich. »Also, was soll ich tun?«, brummelte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. »Bitte, Schatz, komm her! Kannst du nicht kommen? Bitte, Natalie! Ich bin ganz allein! «
    »Okay, okay«, seufzte ich. »Ich komme vorbei. Ich komme, sobald ich kann.«
    Ich hängte auf und erklärte meinem Kollegen, dass ich in ein paar Minuten gehen müsse. An eine unmittelbare Krise glaubte ich jedoch nicht. Meine Großmutter lebt in einem Appartementhaus an der Upper East Side. Eine Menge Leute kennen sie und schauen oft kurz bei ihr vorbei, um zu fragen, wie es ihr geht. Sie wollte Gesellschaft – aber, verflixt noch mal, ich hatte zu tun. Ich führte mein Gespräch zwanzig Minuten fort. Dann kam der zweite Anruf. Diesmal war meine Großmutter absolut hysterisch. »Natalie, wo bleibst du? «, schrie sie. »Du hast gesagt, du kommst! Bitte, Schatz!«
    Nun beeilte ich mich wirklich. Ich rannte aus dem Büro und schnappte mir ein Taxi. Doch als ich in ihrer Wohnung ankam, wäre ich am liebsten umgekehrt. Sie krallte sich an meinem Arm fest und zerrte mich hinein. Ihr Gesicht war grau und tränenverschmiert. Ihr dünnes weißes Haar stand zerzaust in alle Richtungen. Ihr Bademantel war halb heruntergerutscht, und ich wandte mich peinlich berührt ab. Noch nie hatte ich den nackten Körper meiner Großmutter gesehen. Das Zimmer roch muffig; es schnürte mir die Luft ab. Ich riss das Fenster auf und setzte mich steif auf die Couch.
    Die nächsten paar Minuten sagte ich kein Wort, während meine Großmutter im Wohnzimmer umherschlurfte und gegen die ganze Welt wetterte. Sie schimpfte über meinen Onkel, der sie früher am Tag verlassen hatte. (Er war zur Arbeit gegangen.) Sie schalt über meine Mutter – ihre Tochter - , die Ferien in Australien machte. Sie redete wirr darüber, dass sie versuchen würden, ihr Geld zu stehlen, dass sie ihr die Schlüssel weggenommen hätten und niemals länger als zehn Minuten bei ihr blieben – obwohl sie nur allzu gut wusste, dass beide Kinder ihre Tage und Nächte einzig nach ihren
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