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Schnitt: Psychothriller

Schnitt: Psychothriller

Titel: Schnitt: Psychothriller
Autoren: Marc Raabe
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Schnitt von 1,4.
    Sie bekam einen Schminkkoffer geschenkt, und ihre Mutter bestand darauf, mit ihr gemeinsam das Kleid für den Abi-Ball auszusuchen. Liz fühlte sich schon beim Betreten der Boutique deplaciert. Das schulterfreie Kleid, das ihre Mutter für sie kaufte, kostete 4299 Mark und schrie nach einer Operndiva. Liz hasste es von der ersten Sekunde an. Sie kam sich darin vor wie eine Vogelscheuche und wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, aber ihre Mutter ließ es dennoch einpacken.
    Am Morgen vor dem Abi-Ball stand sie mit Magenschmerzen auf. Ihre Mutter kam ins Zimmer, mit dem Kleid in der Hand.
    Â»Ich zieh das Ding nicht an«, platzte es aus Liz heraus. »Das kannst du vergessen.«
    Â»O doch«, entgegnete ihre Mutter, »ob du willst oder nicht. Ist mir völlig egal. Du wirst dieses Kleid tragen.«
    Â»Nein!«
    Â»Mir reicht’s«, rief ihre Mutter. »Entweder du ziehst das Kleid an, oder du gehst da nicht hin.«
    Â»Dann geh ich da eben nicht hin«, sagte Liz wie aus der Pistole geschossen.
    Ihre Mutter starrte sie an. »Schön«, sagte sie und lächelte schließlich. »Dann wirst du mir das Kleid bezahlen. Und zwar jede Mark.«
    Liz blieb der Mund offen stehen. 4299 Mark? »Ich wollte es doch gar nicht. Du hast es mir geschenkt.«
    Â»Ãœberleg’s dir. Entweder du ziehst es an, oder ich hol mir das Geld von deinem Sparbuch.«
    Liz sah ihre Mutter fassungslos an. Auf ihr Sparbuch hatte sie jahrelang jede Mark eingezahlt, um sich nach dem Abitur eine Reise oder ein Auto zu leisten. Sie hatte geahnt, dass ihre Geschenke zum Abitur nicht so opulent ausfallen würden wie bei Ralf. Aber das hier schlug dem Fass den Boden aus.
    Wutentbrannt stürzte sie aus dem Haus, lief ziellos durch die Stadt, bis sie plötzlich vor einer schmuddeligen Ladeneingangstür stand. Der Inhaber des Ladens war ein Fass von einem Mann und stank abartig nach Nikotin und Schweiß.
    Vier Stunden später war sie wieder zu Hause, blass, aber mit einem Lächeln in den Mundwinkeln. Am Abend zog sie dann freiwillig das verhasste Kleid an.
    Die erste Reaktion ihrer Mutter war ein triumphierendes Lächeln. Bis ihr Blick auf Liz’ wundes Dekolleté fiel. Über dem Rand des Kleides starrte sie ein zwei mal zwei Zentimeter großes und frisch gestochenes Totenkopf-Tattoo an, mit gekreuzten Säbeln unter dem Schädel und einem Messer zwischen den grinsenden Zähnen.
    Ihrer Mutter stockte der Atem. Sie geriet außer sich und gab ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige, wobei sie sich die Hand verstauchte.
    Auf den Abi-Ball ging Liz in einem einfachen hochgeschlossenen schwarzen Kleid.
    Am nächsten Morgen räumte sie ihr Sparbuch, dann stapelte sie einige Scheite Kaminholz auf dem frisch gemähten Rasen im elterlichen Garten. Darauf legte sie das verhasste Kleid sowie alle übrigen Röcke und Kleider aus ihrem Schrank. Es war vollkommen windstill, als sie den Haufen anzündete. Schwarzer Rauch und ein beißender Gestank hüllten sie ein.
    Mit einer Lederjacke, ein paar Jeans und Pullovern im Koffer zog sie aus, jobbte, schrieb sich an der Uni für Journalistik ein, hängte ein Volontariat an der Von-Braunsfeld-Akademie für Journalismus dran, mit einem Einser-Abschluss.
    Von ihrem Vater hörte sie dazu das, was immer von ihm kam. Nichts. Dazu kam, dass Journalisten auf seiner Werteskala recht weit unten rangierten.
    Ein paar Jahre später stand Liz auf einer Redaktionsparty mit ihrem damaligen Chefredakteur an einem Stehtisch und erzählte von ihrem Vater. »Glückwunsch«, lachte er, »im Grunde genommen bist du in seine Fußstapfen getreten. Staatsanwalt oder Journalist – ist eigentlich dasselbe, nur eine andere Ebene. Auf jeden Fall hast du die gleiche investigative Ader wie er und die gleiche Unerbittlichkeit, wenn’s drum geht, die bösen Jungs dranzukriegen.«
    Liz hatte dagesessen wie vom Donner gerührt.
    Und als vor drei Jahren eine ihrer Dokumentationen für den Grimme-Preis nominiert worden war, der Preis aber dann an jemand anderen ging, meldete sich ganz unerwartet ihre Mutter. »Und, Elisabeth?«, fragte sie spitz. »War es das wert?«
    Noch heute wünscht sie sich, sie hätte den Preis damals bekommen. Dann hätte ihre Mutter wenigstens nicht angerufen.
    Liz seufzt und geht im Geiste durch, wen sie fragen könnte, was hinter dem kuriosen Telefonat von
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