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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Autoren: Matthias Wittekindt
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Garten.«
    »Die Hexe hat angerufen und …? Nee, oder?«
    »Doch! Du musst hinfahren, Ohayon! Sofort!« Resnais erklärt noch, Madame Darlan sei vielleicht betrunken gewesen. »Die hat so merkwürdig abgehoben gesprochen. Und zwischendurch auch deutsch.«
    Ohayon ahnt, was Resnais meint. Marie Darlan war früher Deutschlehrerin in Fleurville. Wenn Resnais glaubt, dass sie abgehoben spricht, muss das also nicht am Alkohol liegen. Es kann auch Ausdruck ihrer Bildung sein. »Ruf Conrey an. Der soll sich sofort anziehen.«
    »Alles klar, Ohayon.«

    Wenn sie nachts rausmüssen. Vor allem wenn es kalt ist. Wenn es zu einer Leiche geht. Dann ist das immer auch eine Geschichte vom Pissen.
    Pissen, Tod und Architektur.
    Der lange Gang oben. Das Treppenhaus. Der lange Gang unten.
    Die Erschließungswege der Polizeistation von Fleurville sind ein Paradebeispiel für schlechte Architektur. Immerhin gibt es oben am Treppenhaus eine Toilette. Riecht man schon fünf Meter vorher! Ohayon betritt als Lebender in der ganzen Banalität seines Daseins die Toilette, zieht den Duft durch die Nase ein, riecht, dass Leben ein stetiger Wandel und dass dieser Ort ein Mahnmal der Endlichkeit ist. Dann verschwindet dieser Gedanke. Er denkt an die Kantine im Keller. Freut sich auf sein Mittagessen.
    Ein paar Schritte. Ein paar einfache Handlungen.
    Ohayon steht jetzt vor einer gekachelten Wand und ist ganz bei sich. Eine Weile denkt er an nichts. Ein neuer Gedanke reift zu einer Schlussfolgerung: Conrey braucht noch, bis er angezogen ist, da kann ich in Ruhe pissen.
    Dann vernebelt sich auch dieser Gedanke in großer Seligkeit.
    Oh nein! Das hier ist kein Spaß. Zu pissen ist wichtig, wenn’s rausgeht, in die Kälte. An solchen Erfahrungswerten sieht man, dass Ohayon kein Frischling mehr ist. Die Frischlinge müssen alle irgendwann hintern Baum.
    Als Sergeant Ohayon drei Minuten später unten durch den gläsernen Vorbau des Kommissariats geht, sieht er, dass der Gummibaum wieder ein Blatt abgeworfen hat. Er nimmt es zur Kenntnis. Der Gummibaum stirbt seit fünfzehn Jahren. Er war jedenfalls schon da, als Ohayon hier anfing. Und er sah damals nicht anders aus als heute … meint Ohayon. Aber da widersprechen ihm die Älteren und behaupten, der Gummibaum hätte sehr wohl seine guten Zeiten gehabt. Dass er Blätter abwirft, ist immerhin eine Art Lebenszeichen … meint Ohayon.
    Als er aus dem Glaskasten nach draußen sieht, flucht er. Es liegen zwanzig Zentimeter Schnee, der Himmel ist bedeckt, und die Flocken fallen so dicht, dass man keine dreißig Meter weit sehen kann. Bei so einem Wetter ist ein amerikanischer Riesenschlitten mit Heckantrieb nicht gerade ideal. Conrey kommt dazu, er ist noch nicht richtig wach. Sie fahren los.
    »Hast du Roland Bescheid gesagt?«
    »Was denkst du denn, Conrey? Natürlich habe ich Bescheid gesagt!«
    »Und Grenier? Kommt die auch?«
    »Die kommt auch.«
    »Schön. Und wenn das jetzt gar nichts ist?«
    »Dann waren wir alle umsonst im Kalten. Deine Hose ist noch auf.«
    »Danke.«
    »Roland wird sicher eine Weile brauchen bei dem Wetter. Wir werden also die Ersten sein.«
    »Boah, ich bin noch ganz steif.«
    »Kein Schweinkram jetzt.«
    Conrey sieht Ohayon an. Sie sind nicht unbedingt Freunde. Und Conrey findet Ohayons Bemerkungen selten witzig.

    Der Mann aus dem Auto steht in einem Raum aus Glas. Er guckt, als wüsste er nicht, wo er ist.
    Dabei hat er doch schon einige durch und durch vernünftige Dinge gemacht. Er hat zum Beispiel das Licht angeschaltet und seine Orchideen gegossen. Ja, das ist absolut vernünftig: etwas zu tun, das alltäglich ist und doch seine ganze Konzentration erfordert.
    Eine Weile glaubt er, er könnte es schaffen. Dann muss er sich doch setzen.
    Warum, verdammt?
    Er war ausgestiegen. Warum?
    Ja, er hat angefangen zu weinen. Er sitzt auf seinem Stuhl und weint unermesslich. Er bekommt fast keine Luft mehr, Schleim läuft ihm aus Nase und Mund. Und wieder dieser Reflex. Diese Selbstbeschuldigung. Das stand doch unverrückbar fest! Dass ich nicht aussteigen darf! Er darf die Mädchen verfolgen, aber er darf nicht aussteigen. Er hat es trotzdem getan. Von da an erinnert er sich eigentlich an gar nichts mehr. Das ist auch gut, er will es gar nicht wissen. Was bringt das auch, wenn er sich vor sich selbst ekelt. Nein, mitTränen und Rotz ist ihm nicht geholfen. Er braucht jetzt seinen Verstand. Die Funktion seines Verstandes ist überlebensnotwendig. An ein winziges Detail nämlich
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