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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Autoren: Matthias Wittekindt
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erinnert er sich. Im Haus war plötzlich das Licht angegangen. Nur an das. Nur an das Licht erinnert er sich. Ob es vor oder nach seiner säuischen Tat angegangen war, weiß er nicht. Wenn die Hexe mich gesehen hat! Das war kein Gedanke. Das war Angst in ihrer reinsten Form. Gott, wenn die Hexe mich gesehen hat!
    Es war doch sicher hell gewesen auf der Lichtung. Hat da nicht auch Schnee gelegen? Er versucht sich zu erinnern. Wie weggeblasen. Alles wie weggeblasen. Außer diesem kurzen Moment, als im Haus Licht angegangen war. Auf diesen Moment, dieses Bild konzentriert er sich, ist schnell gewiss. Ja, es hat Schnee gelegen. Nicht viel, aber genug, um alles sichtbar zu machen. Vollmond. Der Mond war noch gut zu sehen gewesen, hinter den dünnen Wirbeln aus feinstem Schnee.
    Die Hexe kann mich gesehen haben. Die Angst muss weg, er kann so nicht denken. Vielleicht ist sie sich nicht sicher. Was sieht man auf einer Lichtung, die weiß bezuckert ist? Einen Schatten? Mehr? Charakteristische Bewegungen? Vielleicht ist sie sich nicht sicher.
    Der Mann guckt nach draußen. Es schneit. Und inzwischen sind es schon lange keine feinen, silbernen Flocken mehr. Der Schnee ist ihm vielleicht zum Verhängnis geworden. Gleichzeitig ist er seine Chance. Der Schnee tilgt alle Spuren. Aber nicht die im Gedächtnis der Hexe! Die Angst kommt zurück. Er muss jetzt irgendwas machen. Und dann fällt es ihm ein. Sein Plan! Natürlich! Er hatte doch einen Plan für den Notfall. Sie hat vielleicht nur eine Gestalt gesehen, ist sich nicht sicher! Ja. Er muss anrufen. Sofort. Aber nicht von hier. Er verlässt das Gewächshaus und geht zu seinem Auto. Er muss den Notfallplan ausführen, darf nur daran denken. Sonst kommt die Angst zurück.
    Er weiß es natürlich nicht. Aber die Angst, gesehen wordenzu sein, erkannt, erwischt und sichtbar gemacht zu werden, diese Angst ist, so schrecklich sie auch sein mag, nichts anderes als Schutz. Genau wie die Auslöschung der Erinnerung. Schutz davor, darüber nachzudenken, was er getan hat. Und diesen Schutz wird er jetzt verstärken. Das ist der Zweck des Notfallplans. Das mehr als alles andere.

    Der Ton löst keine Träume aus. Roland Colbert reagiert absolut vernünftig auf das Klingeln des Telefons. Er zieht sein Bein vorsichtig zwischen Juliets Schenkeln raus, dreht sich um und nimmt den Hörer ab, ohne etwas vom Nachttisch zu schmeißen. Er spricht leise, aber so klar, als wäre es zwölf Uhr mittags.
    »Kommissar Colbert.«
    »Hier Ohayon! Du musst sofort kommen. Im Wald bei Fleurville wurde ein totes Mädchen gefunden! Ich mach mich auf den Weg, Conrey nehme ich mit. Am besten, du fährst von Fleurville her ran. Den Parkplatz kennst du?«
    »Ja.«
    »Du gehst gerade in den Wald, bis zum Feensee, gehst um den See. Kennst du den See?«
    »Ja.«
    »Pass auf, dass du nicht irgendwo einbrichst … Es schneit hier ziemlich, und man sieht nicht genau, wo die Gräben sind, ja? Also hältst du am besten genug Abstand, besser etwas mehr als …«
    »Ich gehe um den See, und dann?«
    »Auf der anderen Seite ist ein Hochsitz, da gehst du wieder in den Wald. Da ist ein Haus, ich … Du wirst das Licht sehen. Mein Licht.«
    »Ich werde dein Licht sehen.«
    »Aber beeil dich! Hier schneit alles ein!«
    Juliet murmelt etwas, als er aufsteht. In den ersten Monaten hat sie ihn im Halbschlaf manchmal Jean genannt. Sie war der Meinung, dass er wie Jean Reno aussähe, der Schauspieler. Blödsinn!
    Roland Colbert ist mindestens zwanzig Zentimeter größer, hat mehr Haare. Vielleicht das Gesicht. Die Augen. Aber auch da beschränkt sich die Ähnlichkeit auf den Blick. Kuhäugig! Das hat Juliet wohl gemeint. Man könnte natürlich auch von einem melancholischen Blick sprechen. Nur, was manche für Melancholie halten, entspringt bei ihm einer zur Ruhe gemäßigten Haltung. Es bringt nichts, aufgeregt oder genial zu sein. Es ist auch kein Vorzug, depressiv zu sein oder aggressiv. Roland Colbert ist seit achtzehn Jahren bei der Polizei. Es ist ein Beruf, kein psychotischer Zustand.
    In jedem Fall erst mal auf die Toilette! Gestern hatten wir minus fünf Grad. Roland Colbert duscht kalt, zieht eine lange Unterhose an, ein Unterhemd mit halben Ärmeln, das bis zum Hals schließt. Danach die Thermostrümpfe, Hose, Hemd, Pullover. Lieber zu warm als zu kalt! Schal, Mantel, Mütze.
    Zuletzt denkt er an Ohayon, schnappt sich eine Einkaufstüte, steckt etwas hinein.
    Die Straße. Weiß. Sein BMW. Schwarz. Noch immer eine kleine
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