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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub)
Autoren: Marten t Hart
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bleiben? Als ich bei ihr ankam, verabschiedete sie sich gerade an der Haustür von einer erstaunlich attraktiven jungen Dame.
    »Wer war denn das?«, fragte ich.
    »Meine Hausärztin«, antwortete sie. »Sie kam vorbei und sagte sehr freundlich: ›Frau Schlump, ich will Ihnen nur rasch eine Grippeimpfung verpassen.‹ ›Aber das will ich gar nicht, Frau Doktor, das ganze Mistzeug in meinem Körper, ich denk nicht dran‹, erwiderte ich. ›Sie sind bereits weit über achtzig‹, sagte sie, ›Sie gehören zur Risikogruppe. Wenn Sie eine Grippe kriegen, dann könnten Sie ruckzuck daran sterben.‹ ›Frau Doktor, darf ich vielleicht auch mal sterben‹, habe ich darauf gesagt, und dann ist sie wieder gegangen, denn ihr war klar, dass sie das Mistzeug bei mir nicht loswird. Ich bin nur froh, dass du noch nicht da warst, denn sonst hättet ihr beide gemeinsam ...
    »Aber nein, ich hätte ihr nicht geholfen. Meinetwegen darfst du ruhig irgendwann mal sterben. In zehn Jahren oder so.«
    »So lange noch? Kreuzsapperlot!«
    »Ach, die Zeit vergeht im Flug, zehn Jahre sind nichts.«
    »Meinst du! Nein, nein, ein Tag dauert lange, die Stunden kriechen dahin, und zehn Jahre, die dauern demnach eine Ewigkeit.«
    »In der Ewigkeit kannst du mir dann noch mehr von früher erzählen. Neulich im Bus bist du bis zu deiner ersten Niederkunft gekommen. Der Doktor wusch sich siebenmal die Hände. Und dann?«
    »Danach hat er getreulich eine Woche lang jeden Tag wieder hereingeschaut. Er sagte jedes Mal: ›Mädchen, du willst dich heimlich davonmachen, aber das geht nicht, du hast jetzt ein Kind, und das muss gefüttert werden.‹ Und ich erwiderte darauf: ›Das Kind hat nicht einmal eine Nase‹, woraufhin er sagte: ›Das wird schon werden‹, und tatsächlich, am Montag – oder war es am Dienstag –, da sah ich tatsächlich so etwas Ähnliches wie ein Näschen, und dann kamen auch die Augen zum Vorschein, und schon bald hast du alle mit deinen abnormal hellen Guckern angestarrt. Als du etwa zehn Tage alt warst, machte mein Vater einen Wochenbettbesuch, und nachdem er bei dir gewesen war, sagte er: ›Als ich wegging, da hat der Knirps mir von seinem Bettchen aus mit großen Augen hinterhergeschaut.‹ Wie du da in der Wiege gelegen und geguckt hast! Als hättest du die ganze Zeit total erstaunt gedacht: Wo um Himmels willen bin ich nur gelandet?«
    »Das stimmt, das denke ich bis heute.«
    »Obwohl dir das, was du sahst, offenbar ganz und gar nicht passte, so hat es dich doch auch nicht bekümmert, denn du hast nie geschrien, während der Kleine von Hummelman, Harcootje Hummelman, der am selben Tag geboren und am selben Tag wie du von Pastor Breuk getauft wurde, den ganzen Tag in seinem Bettchen lag und plärrte. Ich weiß noch genau, wie du einmal geweint hast. Du warst schon ein Jahr alt, und wir gingen durch den Westgaag zu meinen Eltern. Es war so bitter, bitter kalt, ach, war das kalt. Der Krieg war gerade vorbei, und wir hatten nichts. Du warst viel zu dünn angezogen, du hast gezittert, und dann hast du angefangen zu weinen, ach, ach, du hast so fürchterlich geweint ... Die Lippen meiner Mutter begannen zu beben.
    Ich sagte: »Lass gut sein, ich habe doch keinen Schaden davon zurückbehalten, außer dass ich schon damals abgehärtet worden bin und bis heute nie friere.«
    »Das stimmt, du machst nie den Ofen an! Wie du das nur aushältst! Ob du damals ... ach, damals hast du so geweint, und dann hat dein Vater dich auf den Arm genommen und hat seinen weiten Mantel halb um dich gelegt, und so gingen wir weiter. Es fing schon an zu dämmern, die Welt war so grau, so eisig, so abweisend, kein Mensch zu sehen, krächzende Krähen auf den fahlen Wiesen, der Himmel bleigrau, Windstöße fuhren durch das raschelnde Schilf, und ab und zu stieg zwischen den Revers deines Vaters noch ein leiser Schluchzer auf, doch schon bald hast du nicht mehr geweint.«
    Sie ging in die Küche. »Ich mach dir Tee, aber du musst dir selbst eine Tasse holen kommen, meine Hände zittern zu sehr.«
    Sie kam zurück ins Wohnzimmer und fragte: »Erinnerst du dich noch daran, dass du einmal vor Wut geweint hast, als du aus dem Kindergarten kamst?«
    »Weinen? Tränen? Wenn du den Tag meinst, an dem Jouri ...
    »Ja, den meine ich. Bereits damals hättest du gewarnt sein müssen. Hättest du nur auf deinen Vater und deine Mutter gehört. Ich erinnere mich noch genau, wie du nach Hause gekommen bist. Deine Augen blitzten zornig. Zunächst wolltest du
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