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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig
Autoren: Nicolas Remin
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Aufstand der Venezianer?»
    Pater Abbondio schwieg einen Moment. Dann sagte er: «Viele Pächter beliefern die kaiserliche Armee. Sie haben nichts gegen die Österreicher. Außerdem erschießen kaiserliche Soldaten nicht grundlos Zivilisten und setzen anschließend ihre Häuser in Brand. Wenn der Mann jemanden versteckt haben sollte, hätte man ihn verhaftet und vor Gericht gebracht, anstatt ihn und seine Frau einfach zu erschießen.»
    «Wenn es keine Soldaten gewesen sind – wer dann?»
    Pater Abbondio seufzte. «Ich weiß es nicht.» Sein Gesicht wirkte düster und angespannt. «Wird sie durchkommen?»
    Der Priester stand noch immer am Fußende des Bettes, sein unstetes linkes Auge huschte über die schmale Gestalt des Mädchens. Dr.   Falier registrierte die Flecken und abgewetzten Stellen auf seiner Soutane und tadelte sich dafür, dass er erst jetzt die stille Würde bemerkte, die diesen Mann umgab. Einen Augenblick lang zog er in Betracht, dem Priester zu sagen, was er gesehen hatte, aber dann entschied er sich dagegen. Es reichte, Pater Abbondio mitzuteilen, dass sie überleben würde.
    Vor drei Tagen hatte ihn das Mädchen, das seine Augen noch nie geöffnet hatte, bei der morgendlichen Visite ein paar Sekunden lang angesehen. Er wusste, dass er diesen Blick niemals vergessen würde.
    Dr.   Falier kannte sich aus mit Blicken. Er kannte die Blicke von Sterbenden, die um einen letzten Aufschub oder einen leichten Tod baten, er kannte die vorwurfsvollen Blicke von Angehörigen, die dem Arzt die Schuld an ihrem Unglück gaben. Aber der Blick des Mädchens hatte um nichts gebeten, noch hatte ein Vorwurf in ihm gelegen. Dieser Blick (aus Augen, die das strahlende, helle Grün von Frühlingslaub hatten) war merkwürdig emotionslos gewesen, und genau das hatte ihn in Verwirrung versetzt. Dr.   Falier hatte nicht in die Augen eines Kindes geblickt, sondern in die Augen einer Frau, die wusste, was mit ihr geschehen war, und die entschlossen war, nichts zu vergessen. Die Botschaft war so klar und eindringlich gewesen, dass Dr.   Falier einen Moment lang davon überzeugt gewesen war, das Mädchen habe zu ihm gesprochen.
    Dr.   Falier hatte seinen Platz an der Fensterbank verlassen und stand jetzt dicht vor dem Bett des Mädchens. Er beobachtete, wie ihre Augenlider zuckten und sich ihre rechteHand um den Saum der Bettdecke schloss. Die Würgemale an ihrem Hals waren noch immer deutlich zu erkennen.
    «Sie kommt durch», sagte Dr.   Falier. «Aber sie wird sich an nichts erinnern.»

1
    Venedig, Februar 1862
    Die grau gestreifte Katze, die gerade einen Fisch erbeutet hatte, drehte misstrauisch den Kopf, als die Contessa Farsetti den Campo della Bragora betrat. Über Nacht hatte es geschneit, und da der Schnee in der Morgendämmerung grau aussah, hob sich das Fell der Katze kaum von der knöchelhohen Schneedecke ab, die den Platz bedeckte. Ein paar Sekunden lang rührte sich die Katze nicht. Dann machte sie einen Satz, und Emilia Farsetti sah, wie sie wieder zwischen den Kisten verschwand, hinter denen sie hervorgekommen war.
    Obwohl es Sonntag war und noch nicht einmal neun, hatte das kleine Café, das ein älteres Ehepaar an der Westseite des Campo betrieb, bereits geöffnet. Die Frau – eine rundliche Person, die mit einem Reisigbesen den Schnee vor dem Café wegfegte – nickte der Contessa freundlich zu, und diese erwiderte ihren Gruß in dem beruhigenden Bewusstsein, dass die Frau nichts von ihr wusste – weder wer sie war, noch welchem Geschäft sie jeden Morgen nachging.
    Zu Beginn dieser Tätigkeit im Herbst letzten Jahres hatte Emilia Farsetti auf dem Weg zur Arbeit noch wahre Höllenqualen ausgestanden. Sie hatte das schreckliche Gefühl gehabt, alle Leute, denen sie begegnete, würden hinter ihrem Rücken mit Fingern auf sie zeigen. Das war natürlich Unsinn. Die Zeiten waren nicht so, dass die Leute mit Fingern auf Frauen zeigten, die einer ehrlichen Arbeit nachgingen.Viele Frauen – auch Damen ihres Standes – taten jetzt Dinge, an die sie eine Generation zuvor nicht einmal im Traum gedacht hatten. Ihre Cousine Zefetta beispielsweise (immerhin eine geborene Priuli) lebte von Bekanntschaften, die sie in den Cafés an der Piazza machte, und sie selber hatte sich noch im letzten Winter als Putzmacherin durchschlagen müssen – in einer Stadt, in der es von Putzmacherinnen nur so wimmelte.
    So gesehen war es ein Glück, dass ihr im Herbst letzten Jahres (von jemandem, der nicht wusste, wer sie war)
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