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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig
Autoren: Nicolas Remin
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Tieres, das dicht über ihrem Kopf einen Hohlraum in der Kabinendecke entlanglief.
    Die Ratten verlassen das Schiff,
dachte sie. Sie hätte nicht sagen können, warum sie das dachte, aber irgendwie schien es ein richtiger Gedanke zu sein.
     
    Vierzehn Tage später wusste Emilia Farsetti, dass es klüger gewesen wäre, die Kabine sofort zu verlassen. Stattdessen blieb sie jetzt stehen und fing leise an zu singen:
«Non sai tu che se l’anima mia   …»
Sie stellte fest, dass der Klang ihrer Stimme sie beruhigte.
    Als sie den Vorhang vor dem Bett aufschob, sang sie immer noch, und vielleicht lag es an der Musik in ihrem Kopf, dass sie zuerst nur Einzelheiten sah: die Altersflecken auf der Hand des Mannes, das fliederfarbene Blumenmuster seiner Weste, das rötliche Haar des Mädchens und ihre weit aufgerissenen Augen. Dann schoss alles zu einem Bild zusammen, und sie musste die Hand auf den Mund pressen, um nicht zu schreien.
    Der Mann, der vor ihr auf dem Bett lag, hatte die sechzig deutlich überschritten. Bis auf den Gehrock war er vollständig bekleidet. Er trug eine graue Hose mit Samtstreifen an den Seiten, unter der Weste ein gestärktes Hemd, am Kragen eine breite schwarze Schleife, die selbst im Tod noch sorgfältig gebunden war. Sein Kopf war leicht nach rechts gesunken, sodass die beiden Einschusslöcher auf der linken Seite seines Schädels nicht zu übersehen waren.
    Hinter ihm, im rückwärtigen Teil des Alkovens, lag eine junge Frau. Sie war nackt, und im milchigen Licht, das in der Kabine herrschte, sah es so aus, als sei ihr Körper mit feinem weißem Puder bestäubt worden. Ihren Hals überzogen bläulich verfärbte Würgemale. Auf den Armen und auf dem Oberkörper waren Blutergüsse zu erkennen.
    Emilia Farsetti öffnete den Mund, um zu schreien, aber alles, was sie zustande brachte, war ein heiseres Krächzen.
    Großer Gott,
dachte sie,
ich träume
.
Ich sollte mich in den Arm kneifen, um aufzuwachen.
Doch stattdessen tat sie etwas anderes. Sie schloss die Augen und fing an, langsam zu zählen.Als sie bei zehn angekommen war, wusste sie, was zu tun war.
    Emilia Farsetti hielt die Luft an und trat vor den Schreibtisch. Dort stand ein Tintenfass, daneben lagen ein Federhalter, eine ausländische Zeitung und zwei Umschläge. Einer wies eine goldgeprägte Krone in der Ecke auf, der andere war groß und braun, aber nicht zu groß, um nicht unter ihre Schürze zu passen.
    Sie horchte, ob sich auf dem Gang jemand näherte. Als sie nichts hörte, steckte sie beide Umschläge in den Rockbund unter ihrer Schürze.
    Dann schrie sie.
    Der Schrei kam direkt aus ihrem Zwerchfell und drang mühelos in alle Winkel des Schiffes. Er bewirkte, dass Kapitän Landrini auf der Kommandobrücke erschrocken seinen Kaffee verschüttete und der Hilfssteward Putz, ein buckliger Zwerg mit großen braunen Augen, das Tablett fallen ließ, das er gerade in die Küche tragen wollte.
    Als sie in die Kabine stürzten, zuerst Putz und Kapitän Landrini, dann der Chefsteward Moosbrugger und ein Matrose, der gerade damit beschäftigt gewesen war, den Schnee vom Vordeck zu schippen, kauerte Emilia Farsetti auf dem Boden. Sie schrie so laut, dass die Eintretenden den Mann und das Mädchen auf dem Bett völlig übersahen.

2
    Es war der Matrose, der die Leichen als Erster entdeckte. Da er stotterte und niemand ihn dabei verstand, war er gezwungen, Kapitän Landrini am Ärmel zu packen und ihn vor das Bett zu zerren. «Da!», sagte er.
    «Da» war das einzige Wort, das er problemlos aussprechen konnte. Unter normalen Umständen hätte er versucht, einen ganzen Satz zu sagen, etwa:
Commandante, da liegen zwei Leichen auf dem Bett,
oder:
Ich glaube, der strenge Geruch kommt von diesem Bett her,
aber so, wie die Dinge lagen, war an vollständige Sätze nicht zu denken.
    Kapitän Landrini, der sich inzwischen fragte, ob der Albtraum, in dem er die letzten zehn Stunden verbracht hatte, jemals enden würde, drehte den Kopf, und eine graue Schockwolke rollte über ihn hinweg. Dann traten die Einzelheiten wunderbar scharf hervor: der auf dem Rücken liegende Mann, sein Kopf mit den beiden Einschusslöchern in der Schläfe und dahinter das Mädchen, ebenso tot wie er, ihr Oberkörper übersät von Blutergüssen, ihr Hals voller Würgemale. Plötzlich hatte Landrini die unangenehme Empfindung, in einem Vakuum zu stehen, als wäre die Luft aus der Kabine gezogen worden und die Wände könnten jeden Moment nach innen einstürzen. Seine Stimme
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