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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig
Autoren: Nicolas Remin
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zog Alessandro den Vorhang aus zerschlissenem Damast zurück und trat zur Seite.
    Das Licht, das in das Zimmer flutete, kam von einem Himmel aus grauer Watte, über den sich unzählige weiße Striche zogen, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Tron begriffen hatte, dass es schneite.
    «Es hat heute Nacht angefangen», sagte Alessandro. «Im Hof liegt der Schnee bereits knöchelhoch.»
    «Ist noch Kaffee oben?»
    «Ich kann dir frischen Kaffee bringen», sagte Alessandro.
    Tron seufzte. «Sag der Contessa, dass ich komme.»

4
    Als Kind war Tron davon überzeugt gewesen, dass sich der wahre Himmel an der Decke des Ballsaals des Palazzo Tron befand. Dem Himmel vor der Tür fehlten die Engel auf den Wolken, und schon daran erkannte Tron, dass er nicht echt war. Außerdem gab es Signor A.   Pollo nicht, der, nur mit einem weißen Bettlaken bekleidet, in einem von vier Pferden gezogenen Wagen stand und jede Bewegung Trons mit seinen Augen verfolgte. Tron hatte sich damals immer gefragt, ob Signor A.   Pollo wohl mit Signor Pollo verwandt war, der im Winter alle vierzehn Tage das Brennholz brachte, aber als er sich bei Alessandro danach erkundigte, hatte der nur gelacht.
    Auch jetzt hatte Signor A.   Pollo Tron von seinem Sonnenwagen herab entdeckt, und Tron zwinkerte ihm zu. Der Ballsaal war eisig – Alessandro würde erst vier Tage vor dem Ball damit beginnen, die beiden großen Kachelöfen zu heizen   –, so eisig, dass Tron durch die Sohlen seiner Stiefel hindurch die Kälte des Fußbodens spürte. Die zweite Tür auf der rechten Seite, eine Flügeltür, über der drei vergoldete Engel musizierten, führte in den Salon der Contessa. Tron drückte die Klinke und trat ein.
    Der Salon enthielt ein halbes Dutzend Louis-Seize-Fauteuils mit fleckigen Bezügen, zwei Konsoltische mit Marmorplatten, über denen erblindete Spiegel hingen, und eine grün gefasste, mit chinesischen Motiven bemalte Kommode. Der Pleyel-Flügel, der im Sommer vor den Fenstern stand, war in die Mitte des Salons gerückt worden, um Platz für einen gusseisernen Ofen zu machen. Dünnes Winterlicht sickerte durch zwei große Fenster, die auf den Canal Grande blickten. Es roch muffig, nach Kaffee und verschüttetem Likör.
    Die Contessa saß dicht am Ofen, von der Taille abwärts praktisch bewegungsunfähig, weil Alessandro ihre Beine in eine dicke Wolldecke gewickelt hatte. Zu ihren Füßen stand ein qualmender
scaldino
(der Qualm war ein Indiz dafür, dass die glühende Holzkohle, mit der er gefüllt war, von schlechter Qualität war), in der linken Hand hielt sie die Gästeliste für den Maskenball.
    «Setz dich, Alvise», sagte die Contessa, ohne von der Liste aufzusehen.
    «Alessandro sagt, du hättest die Absicht, Oberst Pergen einzuladen.» Tron nahm vorsichtig auf einem der Sessel Platz.
    Die Contessa nickte. «Allerdings.» Sie hielt ihre Augen immer noch auf die Gästeliste gerichtet.
    «Glaubst du wirklich, dass der Oberst uns mit der Villa behilflich sein kann?», fragte Tron.
    «Das hat er gesagt.»
    «Und die anderen Gäste?»
    «Wie meinst du das?» Die Stimme der Contessa klang gereizt. Zwar war sie sorgfältig geschminkt, aber im Moment sah sie aus, als hätte sie zum Pinsel gegriffen, um ihre Befürchtungen hinsichtlich des Erfolgs ihres Maskenballes mit einem kränklichen Gelbweiß zu übertünchen. Ihr blasses Gesicht wirkte durch das dunkelgrüne Atlaskleid, das sie trug, noch bleicher. Im letzten Jahr war die Contessa siebzig geworden, aber sie war immer noch eine gut aussehende, deutlich jünger wirkende Frau, die, wenn es erforderlich war, einen beträchtlichen Charme entfalten konnte.
    «Es kommen mindestens zwei Dutzend Leute, die Verwandte im Exil haben», sagte Tron zögernd. «Ich frage mich, ob es unter diesen Umständen taktvoll ist, ausgerechnet den Chef der kaiserlichen Militärpolizei einzuladen.»
    Die Contessa schürzte unwillig die Lippen. «Es geht umeinen
Maskenball
, Alvise. Der Oberst wird nicht in Uniform erscheinen. Außerdem», fügte sie hinzu, «wird er nicht der einzige Österreicher auf dem Ball sein.»
    Tron beugte sich überrascht vor. «Welche Österreicher kommen denn noch?»
    «Die Gräfin Königsegg und ihr Gatte.» Die Contessa hob die Augenbrauen und wartete einen Moment. Als Tron nicht reagierte, lächelte sie dünn. «Offenbar sagt dir dieser Name nichts.»
    Tron schüttelte den Kopf. «Nein.»
    «Die Gräfin ist die neue Oberhofmeisterin der Kaiserin. Ich bin über meine Großmutter mit ihr
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