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Schmidts Bewährung

Schmidts Bewährung

Titel: Schmidts Bewährung
Autoren: Louis Begley
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geschlossenen Freundschaft zu behalten.
    Er schonte das verletzte Bein, so gut er konnte, fragte sich, ob er statt des Stockes besser eine Krücke benutzen sollte, fuhr aber dann von Prag nach Paris weiter, um an Konferenzen teilzunehmen, die von einer internationalen Organisation finanziert wurden – und auch um etwas zu Atem zu kommen. Mike Mansour hatte Schmidt empfohlen, nein: befohlen, in dem Hotel zu wohnen, in dem er selbst immer abstieg, so daß er sich nun nicht wie sonst in dem Haus am linken Ufer einfand, das Mary und er bevorzugt hatten, sondern in einem marmor- und messingglänzenden Palast, und nicht nur das, sondern in einem Raum, der permanent an Mr. Mansour vermietet war und der einen unglaublichen Blick auf den Himmel, den großen Platz tief unten, den erstaunlich schmalen, zahmen Fluß dahinter und auf die Gärten an den Ufern hatte. Es war noch früh am Nachmittag. Er trat auf die Terrasse, um sich von der Sonne wärmen zu lassen. Den ganzen Morgen über hatte es geregnet, und trotz des tief unten brodelnden Verkehrs lag ein frischer Frühlingshauch in der Luft. Wenn er an seine Parisaufenthalte dachte, erinnerte er sich in der Hauptsache an lange Streifzüge. Immer, schon beim ersten Parisbesuch als Student, war er unermüdlich durch die Stadt gewandert und hatte sich durch nichts abhalten lassen, weder durch Hitze oder Regen noch durch Müdigkeit oder die Blasen, die sich so leicht über der Hacke an der Stelle bilden, wo der Schuh an der Sehne reibt; manchmal hatte er ein bestimmtes Baudenkmal oder einen bestimmten Ort finden oder wiederfinden wollen, manchmal lagihm nur daran, Zeit in einem besonderen Quartier zuzubringen, oft war sein Flanieren ganz planlos gewesen, er war zufrieden herumgeirrt, bis die Zeit ihm davonlief oder seine Beine ihn nicht mehr tragen wollten, so daß er gezwungen war, innezuhalten und einen der wunderbar genauen Stadtpläne zu studieren, die in jeder Metrostation hängen. Der dicke rote Punkt zeigte ihm, wo er war. Der Rest war einfach.
    An einem Apriltag wie diesem kam es ihm ganz unvorstellbar vor, nicht zu den Bouqinisten am anderen SeineUfer hinüberzuschlendern, um dann vielleicht über die rue St. Jacques am Panthéon vorbei zum Val-de-Grâce, einem seiner Lieblingsbauwerke in Paris, zu gehen und den Rückweg durch den Luxembourg zu nehmen. Die Möglichkeiten waren unbegrenzt. Freilich mußte er auch zugeben, daß seine Lage Annehmlichkeiten hatte: Von seinem Platz in der ersten Reihe aus konnte er die Stadt, die er liebte, überblicken und bewegende Bilder aus dem Gedächtnis hervorholen, ohne dafür Leiden in Kauf nehmen zu müssen; nichts würde ihn verwirren, nichts sein Glück stören, weder sein müder und beschädigter Körper noch das Getümmel auf den Straßen, noch Veränderungen im Aussehen der Stadt, die jenen Bildern widersprachen – und eine Stadt kann sich noch schneller wandeln als ein Menschenherz. Außerdem würde er, lahm oder nicht, bald ohnehin ausgehen. Er konnte seine Flugbahn von der Terrasse aus sehen. Über die Place de la Concorde würde er zur Rue St. Florentin humpeln und vor dem Herrenhaus stehenbleiben, in dem der siegreiche Talleyrand nach Napoleons Niederlage Zar Alexander I. empfangen hatte. Sobald die Ampel dann rot wurde und den mörderischen Verkehr anhielt – gerade so lange, daß er humpelnd die Rue de Rivoli überqueren konnte –, würde er sich weiterschleppen bis zu den Tuilerien. Charlotte sollte sich mitihm am Bassin treffen, auf dem hoffentlich schon die Spielzeugsegelboote schwammen.
    Bevor er im Februar nach Sofia aufgebrochen war, hatte er ihr seinen Reiseplan geschickt, samt allen Adressen, Telefon- und Faxnummern, unter denen er zu erreichen war. Oben auf das Blatt schrieb er: Falls du mich erreichen mußt. Das war nur aus Prinzip und um der Ordnung willen geschehen. Er hatte nicht erwartet, daß sie sich melden würde. Weihnachten hatten sie sich nicht gesehen und, seit er die gedruckten Ankündigungen bekommen hatte, auch nichts mehr voneinander gehört, bis auf seine gelegentlichen Anrufe. Wenn er anrief, gab sie auf seine immer gleiche Frage: Wie geht’s dir? jedesmal die Antwort: Wie immer. Das ist gut. Tschüs. Hätte Gil Blackman ihn danach gefragt, würde er nie behauptet haben, daß er darüber in Gram versunken sei; durchaus nicht, vielmehr ging er oft tagelang seinen Geschäften nach, ohne unbedingt an Charlotte zu denken. Nur wenn irgend etwas ihn an sie erinnerte – wenn er das Wort Tochter
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