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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Autoren: Rudyard Kipling
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Wissens. Ein anderes Mal, als ihm langsam das Bewußtsein zurück kam, erklärte er mir, er sei das einzige, vernunftbegabte Wesen in dem Inferno, in das er hinabsteige – ein Virgil unter den Schatten – und daß er mir zum Dank für meinen Tabak, ehe er stürbe, Stoff zu einem neuen Inferno geben wollte, das mich zu einem größeren Dichter als Dante machen würde. Dann schlief er auf einer Pferdedecke ein und erwachte vollkommen klar.
    »Mensch,« sagte er, »wenn man erst die tiefsten Grade der Erniedrigung erreicht hat, verlieren nebensächliche Ereignisse, die Euch auf einer höheren Lebensstufe noch ärgern, restlos an Bedeutung. Gestern Nacht war meine Seele bei den Göttern, aber ich zweifle keinen Augenblick, daß mein bestialischer Körper sich hier unten im Unflat wälzte.«
    »Sie waren viehisch betrunken, wenn Sie das meinen,« entgegnete ich.
    »Ich war in der Tat betrunken – schweinisch betrunken. Ich, der ich der Sohn eines Mannes bin – der Sie nichts angeht – der Sohn einer Alma Mater, deren Butterkammer Sie noch nicht einmal gesehen haben. Ich war schweinisch betrunken. Aber bedenken Sie nur, wie wenig ich darunter leide. Im Grunde genommen macht es mir gar nichts, ja weniger als nichts aus. Wie furchtbar wäre dagegen die Strafe, die ich in einem höheren Leben erdulden müßte, wie bitter die Reue! Glauben Sie mir, mein Freund mit dervernachlässigten Erziehung, das Höchste ist nicht anders als das Tiefste – immer vorausgesetzt, daß man den letzten Grad annimmt.«
    Er drehte sich auf seinem Deckenlager um, griff sich mit beiden Fäusten an die Schläfen und fuhr fort:
    »Bei der Seele, die ich verloren, und dem Gewissen, das ich ertötet habe: ich sage Ihnen, daß ich nichts mehr empfinden kann! Ich gleiche darin den Göttern: ich erkenne zwar das Gute wie das Böse, bleibe aber von Beidem unberührt. Ist das nun beneidenswert oder nicht?«
    Wenn ein Mensch in diesem Maße die Warnung eines morgendlichen Katzenjammers eingebüßt hat, so muß es in Wahrheit schlecht um ihn stehen. Ich antwortete daher, das Bild McIntoshs auf der Pferdedecke mit dem wirr in das Gesicht hängenden Haar und den weißblauen Lippen vor Augen, daß ich diese Gefühllosigkeit nicht für gut hielte.
    »Um Himmels willen, sagen Sie das nicht! Ich erkläre Ihnen, sie ist gut und im höchsten Grade beneidenswert. Denken Sie nur an meine Kompensationen!«
    »Haben Sie deren wirklich so viele, McIntosh?«
    »Selbstverständlich; Ihre Versuche, sarkastisch zu sein, typische Waffen eines kultivierten Menschen, sind allzu plump. Erstens einmal habe ich mein Wissen: meine humanistische Bildung – ein wenig getrübt vielleicht durch unmäßiges Trinken – (wobei mir einfällt, ich habe gestern Nacht, ehe meine Seele bei den Göttern weilte, Ihren mir so liebenswürdig geliehenen Pickeringschen Horaz verkauft. Ditta Mull, der Kleinhändler, hat ihn. Er gab mir acht Annas dafür, das Buch kann aber für eine Rupie wieder eingelöst werden) aber, immerhin – der Ihrigen ist sie weit überlegen. Zweitens: die unverbrüchliche Zuneigung von Frau McIntosh, beste aller Frauen. Drittens: ein Monument,unverwüstlicher als Erz, das ich in den sieben Jahren meiner Degradation errichtet habe.«
    Hier hielt er inne und kroch durch das Zimmer, nach einem Trunk Wasser. Er war schon recht zittrig und schwerkrank.
    Verschiedene Male kam er wieder auf diesen ›Schatz‹ – auf irgendeine in seinem Besitze befindliche Kostbarkeit zu sprechen – ich hielt die Sache jedoch für ein Wahngebilde seiner Trinkerphantasie. Er war so arm und so stolz wie nur möglich. Sein Benehmen war keineswegs liebenswürdig, aber er kannte die Eingeborenen, unter denen er sieben Jahre seines Lebens verbracht hatte, so gründlich, daß der Verkehr mit ihm sich wirklich lohnte. Er pflegte sogar über Strickland zu lachen, den er als einen Ignoranten bezeichnete – »in westlichen wie östlichen Dingen ein Ignorant«. Er rühmte sich erstens: seiner Eigenschaft als Oxfordmann von erlesensten Talenten – eine Angabe, die ebensogut auf Wahrheit wie auf Unwahrheit beruhen konnte – ich vermochte sie keiner Hinsicht zu kontrollieren; zweitens: der Tatsache, »daß seine Hand auf dem Puls des Eingeborenenlebens ruhe«.
    Letzteres war wirklich wahr. Als Oxforder Akademiker kam er mir ein wenig snobistisch vor: er protzte ständig mit seiner Bildung. Als mohammedanischer Fakir – als McIntosh Jellaludin dagegen – konnte ich mir keinen wertvolleren Menschen
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