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Schleier der Traeume

Schleier der Traeume

Titel: Schleier der Traeume
Autoren: Lynn Viehl
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mitgekriegt.
    »Aber was passiert, wenn er mich holt, ehe meine Mutter kommt?«, fragte Jimmy hartnäckig. »Der bringt mich um.«
    »Tut er nicht.« Lana schulterte den Rucksack und kniete sich vors Bett. Bevor sie noch ein weiteres Wort sagen konnte, hatte Jimmy sie schon umschlungen.
    »Ich will nicht, dass du weggehst.«
    Sie strich ihm behutsam über den schmerzenden Rücken. Er war ihr ein guter Freund gewesen. »Alles wird gut, Jimmy. Du möchtest doch sowieso lieber bei deiner Mutter wohnen.«
    »Meine Mutter würde dir helfen, Lana.« Er ließ von ihr ab, wischte sich mit dem Ärmel die Nase und blinzelte heftig. »Vielleicht kannst du zu uns ziehen. Wir könnten sie fragen. Sie mag dich.«
    »Mein Vater würde dahinterkommen, und du weißt, was er ihr dann antäte.« Lana schob ihn sanft ein Stück von sich weg und sah ihm in die tränennassen Augen. »Ich muss jetzt los.« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Hab keine Angst. Versteck dich einfach, bis deine Mutter kommt.«
    Als sie aus dem Zimmer glitt, sah sie Jimmy stumm in ihre Matratze schluchzen. Nachdem sie sich einmal mehr vergewissert hatte, dass es ganz still war, schlich sie den Flur entlang zum Treppenhaus. Von dort sah sie die Haustür und die neuen Schlösser, die ihr Vater vor einem Monat eingebaut hatte und die sich von innen wie außen nur mit einem Schlüssel öffnen ließen. Zum Glück hatte jeder im Hause einen nachgemachten Schlüssel, und Jimmy hatte den seines Vaters vom Schlüsselbund gezogen und ihr gebracht.
    Lana hielt ihn in der Faust, als sie weiter Richtung Treppe schlich. Gleich wäre sie unten und draußen und frei. Keine schlaflosen Nächte mehr, kein Verstecken vor ihrem Vater, keine Angst. Und auch keine Lana mehr. Sie hatte sich bereits einen neuen Namen ausgesucht, den sie einem alten Film und einer Landkarte von North Carolina verdankte. Sie wusste noch nicht genau, wie, aber sie würde ihre leiblichen Eltern ausfindig machen und anrufen. Wenn sie ihnen erzählte, was ihr widerfahren war, würde es ihnen leidtun, und sie würden kommen und sie abholen. Das mussten sie einfach machen.
    Ein leises Kichern hinter ihr ließ Lana erstarren.
    »Wusst ich’s doch, dass du dich nur schlafend gestellt hast«, sagte ihr Vater ihr in den Nacken.
    Als sie herumfuhr, sah sie Jimmy direkt hinter ihrem Vater stehen. Er hielt seinen Baseballschläger in den Händen.
    »Du lässt sie gehen.«
    Ihr Vater drehte sich um und hob die Faust, doch Jimmy holte aus und verpasste ihm einen dumpfen Hieb an die Schläfe. Lana unterdrückte einen Schrei, als ihr Vater gegen die Wand torkelte, daran herunterglitt und mit zur Seite hängendem Kopf auf dem Boden sitzen blieb.
    Jimmy senkte den Schläger und sah sie an, während die Tränen seine Wangen hinunterflossen. »Jetzt kannst du fliehen. Los, beeil dich.«

1
    Fünf Jahre hatten weder Rowan Dietrich noch New York sonderlich verändert. Das Mädchen, das bei seiner Flucht nach Georgia all seine Habseligkeiten bei sich gehabt hatte, besaß noch immer kaum mehr als die Kleidung im Rucksack. Sie hatte Freunde gefunden – Menschen, die so kaputt und verkorkst waren wie sie –, aber die beiden ihr wichtigsten Personen hatten sich gefunden und waren nun zusammen und komplett. Zwar wären sie gern weiter ihre Ersatzfamilie gewesen, aber Rowan wollte mehr als das, mehr, als die zwei ihr jemals geben konnten. Sie zu verlassen tat weh, aber Rowan wusste, dass sie das Richtige getan hatte.
    Falls es wirklich eine Bestimmung gibt, dachte sie und nahm ihren Helm ab, dann ist mir das Alleinsein aufgetragen.
    Der November hatte für glatte Straßen gesorgt und zwang sie, auf Nebenstraßen sehr langsam zu fahren. Stunden zuvor hätte sie womöglich noch gerochen, was hier als festlicher Duft galt: gebrannte Mandeln, von Straßenhändlern angeboten, die zu dick oder zu arm waren, als dass es ihnen etwas ausgemacht hätte, in der Kälte draußen zu stehen. Nach Mitternacht trotteten die Verkäufer nach Hause, während die Feuchtigkeit des Flusses gen Osten kroch. Die unangenehmen, feuchtkalten Nebel des Hudson mischten sich mit dem ewigen Gestank nach Abgasen, Müll und dem Dreck, den die Straßen seit Jahrzehnten ausschwitzten. Nicht einmal Pittsburgh – eine der schmutzigsten Städte, die Rowan je gesehen hatte – stank wie New York.
    Etwas Kleines mit fleckigem Fell und langem Schwanz huschte vor ihr über die Straße. Es mochte eine sehr kleine, rattenhafte Katze gewesen sein – oder eine sehr große,
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