Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schleier der Traeume

Schleier der Traeume

Titel: Schleier der Traeume
Autoren: Lynn Viehl
Vom Netzwerk:
Graffitis spickten die nackten Betonziegelwände um die Jungs herum.
    Auf ihrer Straßenseite gab es keine Graffiti: Kein Tag, kein Gangsymbol, keine Hinterlassenschaft der Rapkultur war an den Ziegelmauern zwischen den vergitterten Fenstern und Türen eines exklusiven Gebäudes zu finden. Weiße Buchstaben auf dem dunkelbraunen Vordach des Haupteingangs ergaben nur einen kurzen Namen in eleganter Schrift:
D’Anges
.
    Was mochte das heißen?
Von Engeln? Für Engel?
Rowan war sich nicht sicher. Von den Begriffen in Gourmetkochbüchern und -zeitschriften abgesehen, war ihr Französisch lausig.
    Die Ampel sprang auf Grün, doch sie fuhr nicht weiter, und das Motorengeräusch ließ die Graffitikünstler schließlich auf sie aufmerksam werden. Die Jungen drehten sich wie auf Kommando um, johlten, pfiffen, riefen ihr eindeutige Angebote zu und griffen sich dabei mit gespreizten Fingern in den Schritt.
    Die höchste Anerkennung, die so eine Gang zu vergeben hat
. Rowan entspannte sich etwas und musterte sie. Aus Erfahrung war ihr klar, dass männliche Teenager oft die gefährlichsten Jäger auf den Straßen waren, doch etwas sagte ihr, dass diese Gruppe anfangs rumquatschen würde, um dann blitzschnell loszulegen.
    »Gefällt mir, dein Ofen«, rief der älteste Junge, der sich in seinem übergroßen Footballtrikot und den Zimmermannshosen offenbar todschick fühlte, und schlenderte auf sie zu.
    Rowan sah auf seine Hände. Sie waren schmutzig und an den Fingern gelb besprayt, aber leer: keine Messer, Schusswaffen, Ziegel oder sonstigen Wurfgeschosse. »Danke.«
    »Schickes Teil.« Mit den Augen verschlang er die Maschine geradezu, ehe er Rowan auch nur einen Blick zuwarf. »Drehst du mit mir ’ne Runde um den Block?«
    Damit er sie vom Bike stieß und es zum Ausschlachten in die Werkstatt seines Cousins fuhr? »Vielleicht ein anderes Mal.«
    »Fotze.« Er sah sich um, grinste zum ermutigenden Pfeifkonzert seiner Freunde und schob sich näher an Rowan heran. »Worauf wartest du dann hier? Hast dich verfahren oder was, Muttchen?«
    Sie bemerkte, dass er statt auf ihre Brüste auf die Zündung blickte.
Das hast du also vor
. »Seh ich aus, als hätt ich mich verfahren, Söhnchen?«
    »Hör mal.« Herrliche weiße Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht auf. »Wie wär’s, soll ich dich mit zu einem gemütlichen Plätzchen nehmen, hm?«
    Kaum streckte er den Arm aus, um ihre Schlüssel zu schnappen, da packte sie ihn am Handgelenk und zog ihn an sich. Damit hatte er nicht gerechnet, doch sie brauchte seine Deckung, damit seine Freunde sie nicht sahen. Ein Zittern ging durch die Lederärmel an ihren Armen, als sie in seinen Augen beobachtete, wie ihr winzig darin gespiegeltes Gesicht verschwamm und sich veränderte.
    In Rowans Bauch bildete sich ein heißes Zentrum und strahlte in alle Richtungen. Zugleich schoss ein Strom von Bildern und Worten in sie hinein. Unbarmherzig suchte sie, bis sie das Benötigte fand. »Du bist ein böser Junge, Juanito.«
    »Großer Gott!« Die Augen des Jungen weiteten sich fast erschreckend. »Rosamada? Bist du das?«
    »Sì.« Sie konnte nicht genug Spanisch, um ihm in dieser Sprache ihre Befehle zu erteilen, aber da er in ihr nun das Mädchen sah, das er liebte, würde er es vielleicht nicht bemerken. »Es ist viel zu spät für dich, um noch draußen zu sein, Nito. Sag deinen Freunden Gute Nacht und geh nach Hause.«
    Juanito nickte, zog sich etwas vom Hals und warf es ihr in den Schoß. »Für dich. Trag es für mich, Rosa.«
    Rowan musste zwischen den Schenkeln suchen, bis sie die Metallglieder ertastete und die schwere Kette hervorzog, an der ein glitzerndes Kruzifix aus Silber hing. »Warum gibst du mir deinen Klunker?«
    Er sah durch sie hindurch. »Januar.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und trottete zu seinen Freunden zurück.
    Rowan war einst katholisch gewesen, deshalb gruselte es sie nicht vor dem Kreuz. Als sie aber sah, wie Juanito und seine Freunde ein Kreuz schlugen und die Knöchel ihres Daumens küssten, bevor sie in alle Richtungen auseinanderstrebten, fröstelte sie. Sie blickte sich um, sah aber niemanden und nichts anderes als die dunklen Scheiben des Restaurants.
    Was mochte den Jungs solche Angst gemacht haben?
    Rowan setzte ihren Helm wieder auf. Genug war genug. In ein, zwei Tagen würde sie Boston erreichen, wo man ihr eine gute Arbeit und eine günstige Wohnung versprochen hatte. Sie war nie dort gewesen, war aber bereit für einen Neubeginn. Sollte der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher