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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift
Autoren: Val McDermid
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fragte er.
    »Anscheinend bin ich in deiner Personalakte als nächste Verwandte eingetragen. Entweder hast du sie in den letzten zwanzig Jahren nie aufs Laufende gebracht, oder du bist immer noch der Einzelgänger, der du schon immer warst. Und so eine gewiefte Oberschwester hat mich erkannt, als ich reinkam. Jetzt sitze ich also hier fest, solange der Anstand es verlangt.«
    »Ich hatte keine Ahnung, dass du irgendeine Verbindung zu Bradfield hast.«
    »Hast gedacht, hier wärst du sicher, was? Aber anders als du, Tony, bin ich erfolgreich. Ich habe überall im Land Verbindungen. Das Geschäft läuft auf Hochtouren.« Wenn sie angab, wurde ihr Gesichtsausdruck milder.
    »Du brauchst wirklich nicht hierzubleiben. Ich sage ihnen, ich hätte dich weggeschickt.« Er sprach schnell, die Worte überschlugen sich bei dem Versuch, sich so wenig wie möglich beim Sprechen anzustrengen.
    »Und warum sollte ich glauben, dass du die Wahrheit über mich sagen wirst? Nein, danke. Ich werde meine Pflicht tun.«
    Tony starrte die Wand an. Gab es in der englischen Sprache einen deprimierenderen Satz?

    Elinor Blessing rührte die Schlagsahne mit einem Holzstab in ihren Mokka. Starbucks war vom Hintereingang des Bradfield Cross Hospital zwei Minuten zu Fuß entfernt, und sie meinte, auf dem Gehweg müssten die vielen Schuhe junger Ärzte, die mit Koffein den Schlaf abwehrten, eine Furche hinterlassen haben. Aber heute Vormittag bemühte sie sich nicht, wach zu bleiben, sondern wollte nur nicht im Weg sein.
    Eine senkrechte Falte erschien zwischen ihren Brauen, und ihre grauen Augen starrten in die Ferne. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie überlegte, was sie tun sollte. Sie war schon so lange Thomas Denbys Assistenzärztin, dass sie inzwischen eine ziemlich klare Meinung von ihm hatte. Er war wahrscheinlich der beste Diagnostiker, mit dem sie je zusammengearbeitet hatte, und ergänzte dies durch gründliche klinische Behandlung. Anders als viele andere Chefärzte, die sie gekannt hatte, schien er es nicht nötig zu haben, sein Ego zu pflegen, indem er untergeordnete Ärzte und Studenten zur Schnecke machte. Er ermutigte sie, bei der Visite eine aktive Rolle zu spielen. Wenn seine Studenten seine Fragen beantworten konnten, schien er sich zu freuen, und war enttäuscht, wenn die Antwort falsch war. Die Enttäuschung war ein besserer Ansporn zum Lernen als Sarkasmus und Demütigung, die viele seiner Kollegen austeilten.
    Aber Denby stellte im Allgemeinen – wie ein guter Anwalt – immer Fragen, auf die er die Antworten bereits wusste. Würde er genauso großzügig sein, wenn einer seiner Untergebenen die Antwort auf ein Problem hatte, das er nicht hatte lösen können? Würde er der Person danken, die den glatten Ablauf seiner Visite mit einem Vorschlag unterbrach, den er noch nicht in Betracht gezogen hatte? Besonders wenn sich herausstellen sollte, dass sie recht hatte?
    Man konnte argumentieren, dass er erfreut sein sollte, egal wer die Theorie vertrat. Die Diagnose war der erste Schritt auf dem Weg, dem Patienten zu helfen. Außer wenn es eine ausweglose Diagnose war. Unheilbar, heikel, unmöglich zu behandeln. Niemand wünschte sich diese Art von Diagnose.
    Besonders wenn der Patient Robbie Bishop war.

    Es hatte für Carol etwas Entmutigendes, sich in einem Krankenhaus so gut auszukennen. Aus dem einen oder anderen Grund war sie durch ihre berufliche Tätigkeit mit allen wichtigen Abteilungen des Bradfield Cross vertraut. Der einzige Vorteil daran war, zu wissen, welchen der überfüllten Parkplätze sie am besten ansteuern sollte.
    Die Frau, die im Schwesternzimmer der chirurgischen Männerabteilung Dienst hatte, erkannte sie. Ihre Pfade hatten sich schon mehrfach während der Operation und Wiederherstellung eines Vergewaltigers gekreuzt, dessen Opfer es unfassbarerweise geschafft hatte, sein Messer gegen ihn zu erheben. Seine Schmerzen hatten ihnen beiden ein gewisses Vergnügen bereitet. »Sie sind Inspector Jordan, nicht wahr?«, sagte sie.
    Carol bemühte sich nicht, sie zu verbessern. »Stimmt. Ich suche einen Patienten, der Hill heißt. Tony Hill.«
    Die Schwester schien überrascht. »Sie sind doch etwas zu weit oben in der Hackordnung, um Aussagen aufzunehmen.«
    Carol überlegte kurz, wie sie ihre Beziehung zu Tony beschreiben sollte. »Kollege« genügte nicht, »Vermieter« war irgendwie irreführend, und »Freund« war zugleich zu viel und zu wenig, um wahr zu sein. Sie zuckte mit den Schultern. »Er
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