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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift
Autoren: Val McDermid
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füttert meinen Kater.«
    Die Schwester kicherte. »So einen brauchen wir alle.« Sie zeigte rechts den Korridor entlang. »An den Vierbettzimmern vorbei, da ist eine Tür auf der linken Seite. Dort liegt er.«
    Während Angst an Carol wie eine Ratte an einem Knochen nagte, folgte sie der Wegbeschreibung. Vor der Tür blieb sie stehen. Was würde geschehen? Was würde sie vorfinden? Sie hatte wenig Erfahrung im Umgang mit körperlichen Gebrechen anderer Menschen. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass sie bei Schmerzen auf keinen Fall Leute, die ihr wichtig waren, um sich haben wollte. Deren offensichtlicher Kummer verursachte ihr Schuldgefühle, und sie mochte es nicht, die eigene Verletzlichkeit so offen zeigen zu müssen. Sie hätte wetten können, dass Tony ähnlich fühlte, und rief sich eine frühere Gelegenheit ins Gedächtnis zurück, bei der sie ihn im Krankenhaus besucht hatte. Damals hatten sie sich noch nicht gut gekannt, aber sie erinnerte sich, dass es nicht gerade ein gemütliches Treffen gewesen war. Nun ja, wenn sich herausstellte, dass er allein sein wollte, würde sie nicht bleiben. Nur kurz reinschauen, damit er wusste, dass sie Anteil nahm, und sich dann freundlich verabschieden, nicht ohne dafür zu sorgen, dass er wusste, sie würde auf seinen Wunsch hin wiederkommen.
    Tief einatmen, dann klopfen. Danach die vertraute Stimme, etwas undeutlich. »Kommen Sie, wenn Sie den Stoff haben.« Carol grinste. Also nicht so schlimm. Sie stieß die Tür auf und ging rein.
    Sofort war sie sich darüber im Klaren, dass noch jemand anderes im Zimmer war, aber zunächst hatte sie nur Augen für Tony. Der Dreitagebart betonte das Grau seiner Haut. Er sah aus, als hätte er abgenommen, was er sich nicht leisten konnte. Aber die Augen waren hell, und sein Lächeln schien echt. Eine merkwürdige Konstruktion aus Streckapparaten und Seilen hielt sein Knie in der Gipsschiene in einem Winkel fixiert, der nicht gerade bequem aussah. »Carol«, setzte er an, wurde aber unterbrochen.
    »Sie müssen die Freundin sein«, sagte die Frau, die in der Ecke saß, mit schwachem, aber erkennbar hiesigem Dialekt. »Wieso hat das so lang gedauert?« Carol sah sie überrascht an. Sie schien Anfang sechzig, gut erhalten, da es ihr recht geschickt gelungen war, sich die Jahre vom Leib zu halten. Das Haar war sorgfältig goldbraun gefärbt, das Make-up untadelig, aber dezent. Ihre blauen Augen blickten berechnend, und die sichtbaren Fältchen wiesen nicht auf einen gütigen und großzügigen Charakter hin. Sie war eher dünn als schlank und trug ein Business-Kostüm mit einem Schnitt von überdurchschnittlicher Klasse. Jedenfalls deutlich aufwendiger als das, was Carol sich für ein Kostüm zu zahlen leisten konnte.
    »Wie bitte?«, fragte Carol zurück. Es kam nicht oft vor, dass man sie auf dem falschen Fuß erwischte, denn selbst Schurken waren selten so ungehobelt.
    »Sie ist nicht meine Freundin«, warf Tony ein, und seine Gereiztheit war ihm anzumerken. »Das ist Detective Chief Inspector Carol Jordan.«
    Die Frau hob die Augenbrauen. »Da wär ich nie draufgekommen.« Ihrem dünnen Lächeln fehlte jeder Humor. »Was die Rolle als Freundin betrifft, meine ich, nicht, dass Sie bei der Polente sind. Denn was hat schließlich eine hochrangige Polizistin mit diesem unbrauchbaren Subjekt hier zu schaffen, außer um ihn festzunehmen.«
    »Mutter«, stieß Tony wütend zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. An Carol gewandt zog er ein Gesicht, das eine Mischung aus Frust und der Bitte um Verzeihung war. »Carol, das ist meine Mutter. Carol Jordan, Vanessa Hill.«
    Keine der beiden Frauen schickte sich an, der anderen die Hand zu reichen. Carol unterdrückte ihre Überraschung. Sie hatten zwar nie viel über ihre Familien gesprochen, aber sie hatte eindeutig den Eindruck gehabt, dass Tonys Mutter nicht mehr lebte. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Carol. Sie wandte sich wieder an Tony: »Wie geht’s dir?«
    »Bis oben vollgepumpt mit Medikamenten. Aber heute kann ich wenigstens länger als fünf Minuten wach bleiben.«
    »Und das Bein? Was sagen sie dazu?« Während sie sprach, bemerkte sie, dass Vanessa Hill ihren Laptop in eine bunte Neoprentasche packte.
    »Es ist anscheinend ein einfacher, gerader Bruch. Die Ärzte haben ihr Bestes getan, den Knochen wieder zusammenzufügen …« Er verstummte. »Mutter, gehst du?«, fragte er, als Vanessa mit dem Mantel über dem Arm und der Handtasche sowie dem Laptop über der
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