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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift
Autoren: Val McDermid
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Hintergrund erklang klagend Mobys Song »Spiders«. Die CD war Dr. Tony Hill geschenkt worden, er hätte sie sich niemals selbst gekauft. Aber irgendwie war sie zum festen Bestandteil seines Arbeitsrituals am späten Abend geworden.
    Tony rieb sich die brennenden Augen und vergaß dabei, an seine neue Lesebrille zu denken. »Autsch«, jammerte er, als das Gestell sich in seinen Nasenrücken drückte. Mit dem kleinen Finger erwischte er das Glas der randlosen Brille, und sie flog aus seinem Gesicht direkt auf die Akte, die er gerade las. Er konnte sich den nachsichtig amüsierten Blick von Detective Chief Inspector Carol Jordan vorstellen, die ihm die Moby-CD geschenkt hatte. Seine Zerstreutheit und Ungeschicklichkeit waren schon lange Gegenstand ständiger Witze zwischen ihnen.
    Aber über eine Tatsache konnte sie sich weder lustig noch ihm daraus einen Vorwurf machen: dass er freitagabends noch um halb neun an seinem Schreibtisch saß. Ihr Widerstreben, das Büro zu verlassen, bevor auch wirklich alles erledigt war, war mindestens genauso stark wie seines. Wäre sie hier gewesen, hätte sie verstanden, wieso er geblieben war und noch einmal den Bericht durchging, den er so akribisch für die Haftentlassungskommission vorbereitet hatte. Einen Bericht, den man dort munter ignoriert hatte, als man die Entscheidung traf, Bernard Sharples der Bewährungshilfe zu übergeben. Sein Anwalt hatte die Kommission überzeugt, dass er keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstelle. Ein vorbildlicher Häftling, der mit den Behörden bei allem, was von ihm verlangt wurde, zusammengearbeitet und geradezu ein Musterbeispiel für Reue geboten hatte.
    Na ja, dachte Tony bitter, natürlich war Sharples ein vorbildlicher Gefangener gewesen. Es war leicht, gutes Benehmen zu zeigen, wenn die Objekte der Begierde so unerreichbar waren, dass sich selbst der besessenste Phantast nur schwer etwas ausdenken konnte, was auch nur im Entferntesten einer Versuchung glich. Sharples würde rückfällig werden, er spürte es in seinen Knochen. Und teilweise würde es seine Schuld sein, weil er seine Sicht der Dinge nicht überzeugend genug hatte darlegen können.
    Er setzte die Brille wieder auf und markierte zwei Absätze mit seinem Stift. Er hätte seine Argumente entschiedener vertreten können und sollen, ohne Lücken, die der Verteidigung Angriffspunkte liefern konnten. Er hätte als Tatsache geltend machen müssen, was nach seiner jahrelangen Erfahrung mit Serientätern doch nur auf Mutmaßungen gründete; dazu kam dann noch sein Instinkt, der sich bei den Gesprächen mit Sharples auf das stützte, was sich zwischen den Zeilen lesen ließ. Doch in der schwarzweißen Welt des Bewährungsausschusses gab es keine Grautöne. Tony schien immer noch nicht gelernt zu haben, dass Aufrichtigkeit selten die beste Vorgehensweise war, wenn man es mit der Strafjustiz zu tun hatte.
    Er zog ein Blöckchen mit Klebezetteln heran, aber bevor er etwas daraufkritzeln konnte, drang von draußen Lärm in sein Büro.
    Normalerweise ließ er sich von den verschiedenen Hintergrundgeräuschen nicht stören, die zum Leben im Bradfield Moor Hospital dazugehörten. Der Lärmschutz war erstaunlich wirksam, und außerdem spielten sich die schlimmsten Szenen von Qual und Pein meistens weit entfernt von den Büros ab, wo Akademiker mit einem gewissen Ansehen arbeiteten.
    Mehr Lärm. Es klang wie ein Fußballspiel oder eine gewalttätige Demonstration und war jedenfalls so geräuschvoll, dass es unvernünftig gewesen wäre, es zu ignorieren. Seufzend stand Tony auf, ließ die Brille auf den Schreibtisch fallen und ging zur Tür.
    Alles andere war besser als das hier.

    Nicht viele Menschen hätten eine Stelle am Bradfield Moor Hospital wohl als die Erfüllung eines Traums betrachtet. Aber für Jerzy Golabeck war sie mehr, als er sich nach seiner Kindheit und Jugend in Plotzk jemals erträumt hätte. Seit die polnischen Könige sich 1138 aus dem Staub gemacht hatten, war in Plotzk nicht mehr viel passiert. Arbeitsplätze waren heutzutage nur in den Erdölraffinerien zu haben, wo die Löhne erbärmlich und Berufskrankheiten alltäglich waren. Jerzys enger Horizont hatte sich durch Polens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft mit einem Schlag überwältigend erweitert. Er hatte als einer der ersten mit einem Billigflug von Krakau nach Leeds/Bradford Airport auch die Aussicht auf ein neues Leben gebucht. Aus seiner Perspektive kam sein Mindestlohn einer Riesensumme gleich.
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