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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz
Autoren: Heike Eva Schmidt
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»Willst du bei Tokio Hotel einsteigen?«
    Nessie warf ihm einen finsteren Blick zu und fischte wortlos ihre Tasche aus dem Gras, die Andreas ihr entrissen und dann einfach weggeworfen hatte, damit sie in der Kapelle nicht an ihr Handy kam. Mit ihrer normalen Stimme, die von der ausgestandenen Panik nur noch ein wenig kiekste, sagte sie: »Wenigstens meinen iPod hätte dieser Mistkerl mir dalassen können, wenn er mich schon einsperrt!«
    Unsere Blicke trafen sich – und dann kicherten wir los. Ziemlich schrill, ziemlich hysterisch und mein rauer Hals tat auch höllisch weh vom Würgegriff. Aber das Gelächter vertrieb die letzten dunklen Schatten der vergangenen Stunde und löste die lähmende Schockstarre aus meinen Muskeln. Noch vor Kurzem hätte ich nicht gedacht, dass ich je wieder Gelegenheit zum Lachen haben würde.
    Da sah ich etwas im Gras liegen: Es war Vios Schal. Den sie am Abend der Schulfete bei mir vergessen hatte und den ich damals im Moor getragen und verloren hatte, als ich dem Maskenmann entkommen war. Offenbar hatte Schäfer ihn behalten – und ihn mir vorhin um den Hals geworfen, um mich damit zu erwürgen.
    Jetzt wurde er abgeführt, flankiert von vier Beamten.Die Kommissarin ging daneben und klärte ihn über seine Rechte auf: »Ich nehme Sie fest wegen Verdacht des Mordes an Viktoria Neubauer …«
    Ihre Stimme entfernte sich, den Rest hörte ich nicht mehr. Mit gesenktem Kopf und gefesselten Händen hinter dem Rücken schlurfte Vios Mörder wie ein Roboter mit steifen Schritten zum wartenden Streifenwagen und ließ sich willenlos hineinverfrachten. Ich hoffte, dass er nie wieder freikommen würde.

    Eine Aussage vor Gericht würde mir allerdings nicht erspart bleiben, wie die Kommissarin klarmachte. Aber das war erst viel später, auf dem Revier, wo ich zusammen mit meiner Mutter saß und die Polizei meine Aussage protokollierte.
    Natürlich waren meine Eltern völlig aus dem Häuschen gewesen, als die Kommissarin mich nach meinem Schreckenserlebnis bei der Kapelle nach Hause gebracht hatte. Verheult, die Jeans total verdreckt und mit deutlich sichtbaren roten Würgemalen um den Hals stolperte ich mit letzter Kraft durch die Haustür.
    Es kostete mich viel Mühe und die Polizistin einiges an Einfühlungsvermögen und Diplomatie, um meine zuerst besorgten, dann entsetzten und schließlich über meinen »bodenlosen Leichtsinn« aufgebrachten Altvorderen halbwegs zu beruhigen. Sie waren kurz davor gewesen, das Gleiche durchmachen zu müssen, wie Vios Mutter. Beinahe hätten auch sie ihr Kind verloren.

    Als ich ein paar Tage später wieder zur Schule ging, hatte sich die Story, dass ich fast einem Mädchenmörder zum Opfer gefallen wäre, verbreitet wie ein Lauffeuer. ObwohlNessie Stein und Bein schwor, sie hätte damit nichts zu tun. Aber natürlich hatte die Zeitung von der Verhaftung des mutmaßlichen Täters, der bereits einmal getötet hatte, erfahren. Und weil in unserer malerischen Kleinstadt ansonsten nicht viel passierte, stürzten sich die Reporter auf die Geschichte wie ein Rudel ausgehungerter Katzen auf eine Dose Thunfisch.
    Zu meiner Überraschung und Freude waren die Schüler aber weder sensationslüstern noch quetschten sie mich nach Einzelheiten aus. Als ich in meine Klasse kam, trommelten alle mit den Knöcheln auf den Tisch und Marc, unser Klassensprecher, sagte einfach: »Willkommen zurück, Lila. Wir sind alle echt froh, dass du wieder da bist!«
    Ich war so perplex, dass ich nur überrascht lächeln konnte. Alles, was ich rausbrachte, war: »Ähm, vielen Dank. Ich freu mich auch.«
    Dann schlüpfte ich verlegen auf meinen Platz. Aber ich spürte, dass ich angekommen war. Und das erste Mal schien es mir möglich, irgendwann wieder glücklich zu werden. Auch wenn der Verlust noch lange in einem Winkel meines Bewusstseins sitzen und die Trauer um Vio in vielen Ecken lauern würde. Bereit, mich unvermittelt anzuspringen und sich wieder in meinem Herzen einzunisten.

    Die Einzige, der ich alles anvertraute, was mir die Kommissarin nach Andreas Schäfers Verhaftung erzählte, war Nessie.
    »Wir geben keine detaillierten Informationen über den Täter heraus, Elina«, hatte die Kommissarin meine Fragen zuerst abgeblockt.
    Aber ich ließ nicht locker: »Bitte, Frau Held. Ich muss es wissen! Wegen mir und … wegen Vio. Ich muss wissen, warum er das gemacht hat!«
    Sie seufzte und stimmte schließlich zu, damit ich »die Ereignisse besser verarbeiten könnte«, wie sie sich
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