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Schlangenaugen

Schlangenaugen

Titel: Schlangenaugen
Autoren: Carol Grayson
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jetzt herrschte Krieg. Für Joseph wurde es Zeit für ein neues Leben, das spürte Mama Bo genau. Es würde ein Abschied für lange Zeit werden. Doch sie wollte "ihren" Jungen nicht ohne das Wissen um seine Herkunft ziehen lassen. So erfuhr der junge Mann an diesem Abend, wer sein Vater war. Damit erklärte sich zumindest seine auffallend helle Hautfarbe.  
    Dass er das Resultat einer Vergewaltigung war, verschwieg ihm Mama Bo jedoch. Sie wollte nicht noch mehr böses Blut schaffen als sowieso schon unter den Rassen herrschte. Joseph hörte schweigend zu. Das Licht des Feuers in der Sklavenhütte zeichnete einen goldenen Schimmer über der bronzefarbenen Haut des jungen Mannes, der in einem offenen, karierten Hemd und einer schwarzen, an den Knien abgewetzten Hose davor saß. Mama Bo ihm gegenüber wiegte ihren Oberkörper im Takt einer unsichtbaren Melodie hin und her.
    „Jetzt weiß ich, warum mich die anderen meiden“, sagte Joseph leise, während er noch einen Ast ins Feuer warf.
    „Nicht alle. Die Menschen, die dich mögen, siehst du nicht“, schmunzelte die alte Negerin. Meinte sie damit Rosie, dieses kichernde Mädchen aus der Küche, das ihn immer so neugierig ansah? Liebenswürdig, aber dumm. Fragend blickte er seine Ziehmutter an. „Du siehst sie alle nicht. Denn das, was für dich bestimmt ist, liegt in weiter Ferne.“
    Joseph schaute sie erschrocken an. „Ich soll fort von hier?“
    Mama Bo nickte. „Der Krieg kommt auch hierhin. Dieses Land wird sich verändern. Nichts wird mehr so sein, wie es mal war. Morgen geht die nächste Baumwolllieferung in die Stadt. Der alte Abe ist krank, also wird Tom dich mitnehmen, jung und stark wie du bist.“
    „Woher weißt du das?“ Josephs Augen wurden immer größer.
    „Mama Bo weiß viele Dinge, die noch geschehen werden. Ich habe dich alles gelehrt, was du wissen musst. Tom wird sich nach dem Verkauf der Baumwolle wie immer betrinken und du wartest, bis er schläft. Dann geh so weit fort, wie du kannst. Du trägst kein Sklavenmal, bist also ein freier Mensch. Die Kopfgeldjäger werden dich nicht verfolgen, denn sie bekommen nur Geld für entflohene Sklaven. Geh dahin, wo unsereins wirklich frei ist – in den Norden!“ Ihre Stimme klang bittend und mahnend zugleich. „Folge dem großen Fluss hinauf!“
    Damit meinte sie den gigantischen Mississippi, einen der größten Handelswege, der bei New Orleans ins Meer mündete. Joseph musste flussaufwärts gehen.
    „Also gut, wenn du es so wünschst!“, seufzte Joseph. Es widerstrebte ihm, die alte Frau und die Plantage zu verlassen. Das hier war so etwas wie seine Heimat. Seine Gedanken kreisten um die Dinge, die er soeben erfahren hatte und schwirrten in Panik umher wie Insekten. Er fürchtete das viele Neue, das da draußen auf ihn warten würde.
    „Sag niemandem, woher du kommst und dass deine Mutter eine Sklavin war! Erzähl Fremden überhaupt so wenig wie möglich“, forderte Mama Bo noch eindringlich und legte den rechten Zeigefinger auf ihre vollen Lippen. Joseph nickte tief in sich versunken. Seine dunklen Augen spiegelten das Feuer wieder, als könne dieses all seine Fragen an die Zukunft beantworten.
    * * *
    „André LeClerq, du verlässt die Stadt mit dem nächsten Schiff, verstanden?“ Der Sheriff von Baton Rouge verstand keinen Spaß, wenn es darum ging, kleine und große Gauner aus seiner Stadt zu entfernen. Obwohl er André mochte. Schließlich kannte er ihn schon als kleinen Jungen.
    Der ganz in schwarz gekleidete Berufsspieler vor seinem Schreibtisch verzog keine Miene. Er war unglaublich jung und ebenso attraktiv. Schwarzhaarig, schlank, mit einem schmalen Oberlippenbart in einem knabenhaften Gesicht, glich er einem Musketier des französischen Königs, doch innerlich war André durchtrieben und raffiniert. Aufgewachsen ohne Familie in einem Saloon, musste er sich früh alleine durchschlagen. Er lernte sämtliche Tricks von den hartgesottenen Karten- und Würfelspielern, die er als kleiner Junge mit Whiskey und Bier versorgen musste, um sich so sein Brot zu verdienen, wie der feiste Wirt behauptete. Die Frauen umgarnte er mit frechem Charme, sodass er immer bekam, was er wollte. Das war meistens Geld, er brauchte schließlich einen Spieleinsatz. Die weiblichen Reize an sich ließen ihn seltsamerweise völlig kalt.
    So wurde er, was er heute war: Ein kaltschnäuziger Spieler mit einem Engelsgesicht, der seine Seele dem Spiel verschrieb. Einfach, weil er gar nichts anderes konnte. Seine
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