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Schlangenaugen

Schlangenaugen

Titel: Schlangenaugen
Autoren: Carol Grayson
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den abgelegenen Plantagen nicht Halt. Ein Raunen und Flüstern ging durch die Hütten der Schwarzen. Bald gab es immer mehr Flüchtlinge, die sich bei Nacht und Nebel auf den gefahrvollen Weg in den sicheren Norden machten. Wurden sie dabei erwischt, drohte ihnen die Todesstrafe.
    Joseph St. Cloud flüchtete nicht. Er wartete ab. Annabelles Sohn war ein großer, kräftiger Mann geworden mit außergewöhnlich heller Haut und schwarzen Augen. Dunkle Locken umrahmten den Kopf mit den hohen Wangenknochen. Nur die etwas breitere Nase verriet den negroiden Einschlag, doch man hätte ihn ohne weiteres für einen der Immigranten halten können, die vom Osten her ins Land fluteten. Aus Europa, Asien und dem Orient. Hoffnungsvoll und verzweifelt zugleich. Genau wie die Sklaven auf den Baumwollfeldern.
    Joseph war ein schweigsamer Junge. McMillan hatte sich davor gescheut, seinen Sohn mit dem Brandzeichen der Cloudy Moon Plantage zu versehen. Dass es sich um seinen Sohn handelte, war ein offenes Geheimnis. Annabelle war die einzige Sklavin, die ihm einen männlichen Nachkommen schenkte. Alle anderen brachten bislang nur wertlose Mädchen zur Welt. Mädchen, deren leiblicher Vater sie ohne Zögern weiterverkaufte. Doch Annabelle behandelte der hartherzige Plantagenbesitzer nicht weniger grausam.
    Er trennte Mutter und Sohn bereits im Säuglingsalter und ließ Joseph von Mama Bo aufziehen. Keine Ketten und keine Peitschenhiebe für diesen Jungen, so wies er die Aufseher unmissverständlich an. Annabelle verkaufte er wenige Wochen später an einen Tabakpflanzer in Alabama.
    Josephs Ziehmutter lehrte den hübschen Jungen alles, was er brauchte, um allein zurechtzukommen in einer Welt voller harter Arbeit, Hass und Demütigungen. Sie lehrte ihn lesen und schreiben, Fähigkeiten, die eigentlich allein den Weißen vorbehalten waren, und die Mama Bo sich über viele Jahrzehnte durch Bücher beim Vorlesen der verstorbenen Mistress McMillan angeeignet hatte. Sie  unterrichtete  ihn heimlich darin, nachts beim Schein des Feuers. Ein Ast war ihr Lehrstock und der Lehmboden ihre Tafel. Joseph spürte, dass er anders war als die anderen Sklaven.
    Nicht nur, weil er ein Mischling war und weil er nie geschlagen wurde. Er war der einzige, der stolz einen Nachnamen für sich beanspruchte und den Namen der Plantage trug, auf der geboren war. Da er genauso gläubig war wie viele seiner Leidensgenossen und bereits auf einen katholischen Vornamen getauft wurde, nahm er den Zusatz Saint in den Namen auf. So entstand St. Cloud.  
    „Ein guter Name“, hatte Mama Bo eines Abends gesagt. „Ein sehr guter Name“, und dabei weise genickt. „Er wird dir in der Fremde helfen.“ Joseph blickte sie verwundert an. Mama Bo lächelte. Es war an der Zeit, ihn fortzuschicken. Mittlerweile war er zu einem jungen, hübschen Mann herangewachsen. Die alte Sklavin, die nunmehr einen Gehstock nutzte, wenn sie die Hütte verlassen musste, spürte, dass große Dinge vorvorstanden. Der Krieg kam auf Louisiana zu und auf die Cloudy Moon Plantage. Joseph sollte dann besser nicht mehr hier sein. Wer sollte ihn beschützen?
    Die anderen Sklaven beäugten den hellhäutigen Sklaven misstrauisch und ablehnend. Oberaufseher Tom Stratton, der das Geheimnis des Masters kannte und die Sonderbehandlung des „weißen Niggers“, wie er Joseph nannte, innerlich ablehnte, hasste den Mulatten. Er hasste alles, was „anders“ war.
    Stratton ließ keine Gelegenheit aus, den Jüngling in den Staub zu stoßen, wenn er vollgepackt mit seinen Körben zur Wiegestation ging, oder ihm auf andere Art die Privilegiertheit der Weißen beizubringen. Ihn mit der Peitsche zu schlagen wagte er jedoch nicht. So was hinterließ Spuren. Dass der Norden für das Ende der Sklaverei eintrat, war ihm zuwider. Stratton war zu alt, um in der Südstaatenarmee zu kämpfen, also kämpfte er seinen eigenen verbissenen Kampf, und der hieß Weiß gegen Schwarz. Joseph wusste, dass der Aufseher sein Feind war und hielt sich weitgehend von allem fern, was seine Aufmerksamkeit erregen konnte. Er machte seine Arbeit – Baumwolle pflücken – tagaus, tagein. Genau wie die anderen.
    Niemand der übrigen Sklaven hatte sich im Laufe der Zeit mit dem Heranwachsenden angefreundet, obwohl dieser genauso hart auf den Feldern schuftete wie sie alle. Er blieb ein Einzelgänger. So wurde der Junge ein gelehriger Schüler von Mama Bo. Sie lehrte ihn die Kraft der Kräuter ebenso einzusetzen wie seinen klugen Kopf. Aber
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