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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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packt, um zu gehen, kann er sich jedoch eine kleine Bemerkung nicht versagen. Sie scheinen Schriftsteller zu sein, sagt er und deutet auf den Tisch, und Black sagt ja, das sei richtig, er sei Schriftsteller.
    Es sieht nach einem großen Buch aus, fährt Blue fort.
    Ja, sagt Black. Ich arbeite seit Jahren daran.
    Sind Sie beinahe fertig?
    Ich komme allmählich zum Schluss, sagt Black nachdenklich. Aber manchmal ist es schwer zu wissen, wo man ist. Ich denke, ich bin beinahe fertig, und dann erkenne ich, dass ich etwas Wichtiges ausgelassen habe, und muss wieder an den Anfang zurückgehen. Aber, ja, ich träume davon, es eines Tages zu beenden. Vielleicht schon bald.
    Ich hoffe, ich bekomme eine Chance, es zu lesen, sagt Blue.
    Alles ist möglich, sagt Black. Aber zuerst muss ich es fertig schreiben. Es gibt Tage, an denen ich nicht einmal weiß, ob ich noch so lange lebe.
    Ja, das wissen wir nie, nicht wahr?, sagt Blue und nickt philosophisch. Den einen Tag leben wir noch, und am nächsten sind wir tot. Das geht uns allen so.
    Sehr wahr, sagt Black. Das geht uns allen so.
    Sie stehen nun an der Tür, und etwas in Blue möchte weiter solch alberne Bemerkungen von sich geben. Es macht Spaß, den Hanswurst zu spielen, stellt er fest, aber gleichzeitig verspürt er den Drang, mit Black zu spielen und zu beweisen, dass ihm nichts entgangen ist – denn tief im Innern möchte Blue, dass Black weiß, dass er ebenso gerissen ist wie er, dass er sich jederzeit mit ihm messen kann. Doch es gelingt Blue, den starken Wunsch zu unterdrücken und den Mund zu halten. Er nickt höflich als Dank für den Kauf und geht. Das ist das Ende des Fuller-Bürsten-Mannes, und weniger als eine Stunde später ist er ausrangiert und steckt in derselben Tasche wie die Reste von Jimmy Rose. Blue weiß, dass keine Verkleidungen mehr nötig sein werden. Der nächste Schritt ist unvermeidlich, und das Einzige, worauf es ankommt, ist, den richtigen Zeitpunkt zu wählen.
    Aber drei Abende später, als er endlich seine Chance bekommt, erkennt Blue, dass er Angst hat. Black verlässt um neun Uhr sein Zimmer, geht die Straße hinunter und verschwindet um die Ecke. Obwohl Blue weiß, dass dies ein direktes Signal ist, dass Black ihn sozusagen auffordert, den Schritt zu tun, hat er trotzdem das Gefühl, dass es eine Falle sein könnte, und nun, im letzten möglichen Augenblick, als er eben noch zuversichtlich war, beinahe auftrumpfend im Gefühl seiner eigenen Macht, versinkt er in neuen quälenden Selbstzweifeln. Warum sollte er plötzlich Black vertrauen? Aus welchem erdenklichen Grund sollte er davon ausgehen, dass sie nun beide auf der gleichen Seite arbeiteten? Wie kommt er dazu und warum ist er wieder so unterwürfig und bereit zu tun, was Black will? Wider Erwarten beginnt er, eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Was, wenn er einfach aufgäbe? Wenn er aufstünde, durch die Tür ginge und das ganze Geschäft hinter sich ließe? Er beschäftigt sich eine Weile mit diesem Gedanken, führt ihn im Geiste aus, und nach und nach fängt er an zu zittern, von Entsetzen und Glück ergriffen wie ein Sklave, der plötzlich eine Vision seiner Freiheit hat. Er stellt sich vor, dass er woanders ist, weit weg, dass er mit einer Axt über der Schulter durch die Wälder geht. Allein und frei, endlich sein eigener Herr. Er baut sein Leben ganz neu auf, ein Verbannter, ein Pionier, ein Pilger in der neuen Welt. Aber er kommt nicht weit. Denn kaum wandert er inmitten von nirgendwo durch diese Wälder, fühlt er auch schon, dass Black ebenfalls da ist, sich hinter einem Baum versteckt, unsichtbar durch ein Dickicht schleicht, darauf wartet, dass Blue sich niederlegt und die Augen schließt, um sich heranzupirschen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Es geht immer weiter, denkt Blue. Wenn er Black jetzt nicht erledigt, wird es nie ein Ende geben. Das nannten die Alten Schicksal, und jeder Held muss sich ihm unterwerfen. Es gibt keine Wahl, und wenn etwas getan werden kann, so ist es nur das eine, das einem keine Wahl lässt. Aber Blue will es nicht zugeben. Er kämpft dagegen, er weist es von sich, es widert ihn an. Doch das kommt nur daher, dass er es schon weiß, und dagegen anzukämpfen, heißt, es schon akzeptiert zu haben; Nein sagen zu wollen, heißt, schon Ja gesagt zu haben. Und so fügt sich Blue allmählich; er gibt schließlich der Notwendigkeit dessen, was zu tun ist, nach. Aber das bedeutet nicht, dass er sich nicht fürchtet. Von diesem Augenblick
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