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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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an gibt es nur ein Wort, das auf Blue zutrifft, und dieses Wort ist Angst.
    Er hat kostbare Zeit vertan, und nun muss er auf die Straße hinaus und fieberhaft hoffen, dass es nicht zu spät ist. Black wird nicht für immer fort sein, und wer weiß, ob er nicht hinter der Straßenecke lauert und nur auf den Augenblick wartet, sich auf ihn stürzen zu können? Blue rennt die Stufen vor Blacks Haus hinauf, hantiert ungeschickt, als er das Schloss der Eingangstür mit einem Dietrich öffnet, blickt immer wieder über die Schulter zurück und geht dann die Treppen zu Blacks Stockwerk hinauf. Das zweite Schloss macht ihm mehr Mühe als das erste, obwohl es theoretisch einfacher sein müsste, leichte Arbeit für den blutigsten Anfänger. Sein ungeschicktes Hantieren zeigt Blue, dass er die Beherrschung verliert, dass er sich von all dem unterkriegen lässt; aber obwohl er es weiß, kann er kaum mehr tun, als durchhalten und hoffen, dass seine Hände aufhören werden zu zittern. Aber es wird immer schlimmer, und in dem Augenblick, in dem er den Fuß in Blacks Zimmer setzt, fühlt er, wie alles in ihm dunkel wird, so als drücke sich die Nacht durch seine Poren, als säße sie mit einem ungeheuren Gewicht auf ihm, und gleichzeitig scheint sein Kopf größer zu werden, sich mit Luft zu füllen, als wollte er sich vom Körper trennen und davonschweben. Er macht noch einen Schritt in das Zimmer, und dann verliert er das Bewusstsein und bricht zusammen wie ein Toter.
    Seine Uhr bleibt mit dem Sturz stehen, und als Blue wieder zu sich kommt, weiß er nicht, wie lange er weg war. Zuerst nur verschwommen, erlangt er das Bewusstsein wieder mit dem Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, vielleicht vor langer Zeit, und als er die Vorhänge vor dem offenen Fenster wehen und die Schatten seltsam über die Decke huschen sieht, denkt er, er läge zu Hause im Bett, wie damals, als er noch ein kleiner Junge war, und er stellt sich vor, dass er die Stimmen seiner Mutter und seines Vaters, die ruhig im nächsten Zimmer miteinander sprechen, hören kann, wenn er nur aufmerksam genug horcht. Aber das dauert nur einen Moment. Er beginnt den Schmerz in seinem Kopf und seinen aufgewühlten Magen zu spüren, und dann, als er endlich erkennt, wo er ist, befällt ihn wieder Panik. Er rappelt sich schwankend auf, stolpert ein- oder zweimal und sagt sich, dass er hier nicht bleiben kann, ja, er muss gehen, und zwar sofort. Er ergreift die Türklinke, aber dann erinnert er sich plötzlich, warum er überhaupt herkam. Er holt die Taschenlampe hervor, schaltet sie ein und lässt ihr Licht mit unsteten Bewegungen durch das Zimmer wandern, bis es auf einen Stoß von Papieren fällt, die säuberlich an der Kante von Blacks Schreibtisch aufgeschichtet sind. Ohne zu zögern greift Blue die Papiere mit der freien Hand, sagt sich, es spielt keine Rolle, dies ist ein Anfang, und geht dann zur Tür.
    Wieder in seinem Zimmer auf der anderen Straßenseite, schenkt sich Blue ein Glas Brandy ein, setzt sich auf das Bett und versucht ruhig zu werden. Er trinkt den Brandy in kleinen Schlucken und schenkt sich noch ein Glas ein. Als sich seine Panik langsam legt, bleibt ein Gefühl der Scham zurück. Er hat es verpfuscht, sagt er sich. Zum ersten Mal in seinem Leben war er der Situation nicht gewachsen, und er empfindet es als einen Schock, sich als Versager zu sehen, zu erkennen, dass er im Grunde ein Feigling ist.
    Er nimmt die Papiere, die er gestohlen hat, und hofft, sich von diesen Gedanken abzulenken. Aber das Problem spitzt sich nur noch mehr zu, denn als er sie zu lesen beginnt, stellt er fest, dass sie nichts weiter sind als seine eigenen Berichte. Da sind sie, einer nach dem anderen, seine wöchentlichen Berichte, schwarz auf weiß, und sie bedeuten nichts, sie sagen nichts, sie sind von der Wahrheit des Falles ebenso weit entfernt, wie es Schweigen wäre. Blue stöhnt, er sinkt tief in sich hinein, und dann, angesichts dessen, was vor ihm liegt, beginnt er zu lachen, leise zuerst, aber dann immer lauter, bis er um Atem ringt, beinahe erstickt, so als versuchte er, sich ein für alle Mal auszulöschen. Er nimmt die Papiere fest in die Hand, wirft sie zur Decke hinauf und sieht zu, wie der Stoß auseinander bricht und eine elende Seite nach der anderen zu Boden flattert.
    Es ist nicht sicher, ob sich Blue jemals wirklich von den Ereignissen dieses Abends erholen wird. Und selbst wenn, so muss festgestellt werden, dass mehrere Tage vergehen, bevor er eine
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