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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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stattet er sich nach und nach geduldig mit einer Glatze, einem Schnurrbart und Altersfalten um die Augen und den Mund aus. Er sitzt vor seinem kleinen Spiegel wie ein alter Varietekünstler auf Tournee. Kurz nach elf Uhr nimmt er seinen Koffer mit Bürsten und geht über die Straße zu Blacks Haus. Das Schloss der Eingangstür zu öffnen ist für Blue ein Kinderspiel, und als er in den Flur schlüpft, kann er nicht umhin, etwas von der alten Spannung zu verspüren. Keine Grobheiten, ermahnt er sich selbst, als er die Treppen zu Blacks Stockwerk hinaufgeht. Dieser Besuch dient nur dazu, einen Blick hineinzuwerfen und den Raum abzustecken. Trotzdem hat der Augenblick etwas Erregendes, das Blue nicht ganz unterdrücken kann. Denn er weiß, es geht nicht nur darum, das Zimmer zu sehen – es ist der Gedanke, selbst dort zu sein, innerhalb dieser vier Wände zu stehen, die gleiche Luft wie Black zu atmen. Von nun an, denkt er, wird alles, was geschieht, alles andere beeinflussen. Die Tür wird sich öffnen, und danach wird Black für immer in ihm sein.
    Er klopft, die Tür geht auf, und plötzlich gibt es keine Entfernung mehr, das Ding und der Gedanke an das Ding sind ein und dasselbe. Black steht in der Tür, mit einem Füllfederhalter ohne Kappe in der rechten Hand, so als wäre er bei der Arbeit unterbrochen worden, und doch erkennt Blue an seinem Blick, dass er ihn erwartet hat, dass er sich mit der harten Wahrheit abgefunden hat, dass es ihm aber nichts mehr auszumachen scheint.
    Blue beginnt sein Geplapper über die Bürsten, zeigt auf den Koffer, entschuldigt sich, bittet eintreten zu dürfen, alles in einem Atemzug und mit der gleichen Masche, die er schon tausendmal ausprobiert hat. Black lässt ihn ruhig ein und sagt, er könne vielleicht eine Zahnbürste brauchen, und während Blue über die Schwelle tritt, leiert er seine Sprüche über Haarbürsten und Kleiderbürsten herunter, nur damit die Worte fließen, denn so kann er das Zimmer in sich aufnehmen, beobachten, was es zu beobachten gibt, und nachdenken, während er Black von seiner wahren Absicht ablenkt.
    Das Zimmer ist ungefähr so, wie er es sich vorgestellt hat, vielleicht noch nüchterner. Es überrascht ihn ein wenig, dass nichts an den Wänden hängt, da er immer dachte, es gäbe ein oder zwei Bilder, irgendetwas, was die Monotonie unterbricht, eine Landschaft vielleicht oder das Porträt von jemandem, den Black einmal geliebt hat. Blue war immer neugierig, was für ein Bild es sein mochte, denn er dachte, es könnte ein wertvoller Hinweis sein, aber nun da er sieht, dass es keines gibt, begreift er, dass er das schon immer hätte erwarten müssen. Abgesehen davon widerspricht sehr wenig seinen früheren Vorstellungen. Es ist die gleiche Mönchszelle, die er im Geiste sah: das kleine, ordentlich gemachte Bett in einer Ecke, die Kochnische in einer anderen Ecke, alles makellos sauber, nicht ein Krümel zu sehen. In der Mitte des Zimmers, dem Fenster gegenüber, steht der hölzerne Tisch und ein einzelner Holzstuhl mit gerader Rückenlehne. Bleistifte, Federn, eine Schreibmaschine. Eine Kommode, ein Nachttisch, eine Lampe. Ein Bücherregal an der Nordwand, aber nur mit wenigen Büchern. Walden, Grashalme, Zweimal erzählte Geschichten und ein paar andere. Kein Telefon, kein Radio, keine Zeitschriften. Auf dem Tisch, säuberlich an den Kanten aufgeschichtet, Stapel von Papier, teils leer, teils beschrieben, mit der Schreibmaschine oder mit der Hand. Hunderte von Seiten, vielleicht Tausende. Aber man kann das nicht ein Leben nennen, denkt Blue. Man kann es wirklich gar nichts nennen. Es ist ein Niemandsland, der Ort, an dem man am Ende der Welt ankommt.
    Sie sehen die Zahnbürsten durch, und Black wählt schließlich eine rote. Dann beginnen sie die verschiedenen Kleiderbürsten zu prüfen, und Blue führt sie an seinem eigenen Anzug vor. Ich denke, ein Mann, der so sauber ist wie Sie, hält sie für unentbehrlich, sagt Blue. Aber Black sagt, er sei bisher ohne eine ausgekommen. Andererseits könne er vielleicht eine Haarbürste in Betracht ziehen, und so gehen sie die Möglichkeiten im Musterkoffer durch und sprechen über die verschiedenen Größen und Formen, die verschiedenen Arten von Borsten und so fort. Blue ist natürlich mit seinem eigentlichen Geschäft schon fertig, aber er setzt sein Spiel mechanisch fort, denn er will seine Sache richtig machen, auch wenn es nicht darauf ankommt. Als Black die Bürsten bezahlt hat und Blue seinen Koffer
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