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Schlagmann

Schlagmann

Titel: Schlagmann
Autoren: Evi Simeoni
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Ich sah zwei tiefe Augenhöhlen und eine scharfe Nase. Gefaltete Spinnenhände. Er hatte es geschafft. Er war spurlos verschwunden. Das bisschen Haut und Knochen im steifen Anzug, diese Hülle ohne Inhalt, das war niemand.
    Reiß dich zusammen, befahl ich mir. Da liegt der Schlagmann. Zur Ablenkung griff ich in meine Tasche und befühlte seinen Brief. Er war noch verschlossen. Auf die Vorderseite hatte er damals im Krankenhaus meinen Namen geschrieben. Auf der Rückseite stand: Für den Achter, bitte am Tag meiner Beisetzung öffnen. Eigentlich passte so etwas nicht zu ihm. Schon das Wort Beisetzung schien mir viel zu förmlich.
    Mein Blick fiel auf eine kleine Pappsäule mit weißer Spitzendecke am Fuß des Sarges. Darauf lag seine olympische Goldmedaille, noch mit dem Originalband. Dahinter stand ein gerahmtes Foto von Arne, das ich nicht kannte. Ich schätzte, dass es beinahe zwanzig Jahre alt war. Ein hoch aufgeschossener, blonder Junge in Ruderkleidung, vor sich den Riemen, das Blatt auf dem Boden aufgesetzt, der Griff an seiner Schulter. Er blinzelte in die Sonne wie ein Fremdling, so als hätte ihn gerade jemand zum ersten Mal aus einem dunklen Nest ans Licht geholt, auf seinen Lippen war ein schüchternes Lächeln zu erahnen. Es war dieses Lächeln, das mich die Beherrschung kostete, Tränen schossen mir in die Augen. Jetzt erst wurde mir ganz klar, dass es keine Hoffnung mehr gab.
    Neben mir hörte ich noch jemanden weinen. Es war Anja, die ein weißes Taschentuch vor ihren Mund presste. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass sie ein Kreuz schlug – ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie gläubig war. Auf der anderen Seite schneuzte sich Scholz. Der Liliengeruch verursachte mir Hustenreiz, und ich überlegte, wie lange man üblicherweise wohl vor einem Sarg stehen bleiben musste. Als die Tür aufging, und ein greller Lichtstreifen in den Raum fiel, schien dies das Zeichen zu sein, dass wir gehen konnten. Gleichzeitig drehten wir uns um. In der Tür stand Frau Hansen mit einem geblümten Stoffhut auf dem Kopf und winkte. Hinter ihr warteten drei Männer in dunkelgrauen Uniformen mit Schirmmützenauf den Köpfen. Einer sagte in gedämpftem Ton, dass es Zeit sei, den Sarg zu schließen, und wir gingen hinaus.
    Vor der Tür öffnete Anja die Handtasche und holte einen golden schimmernden Gegenstand hervor. »Das wollte ich ihm eigentlich in den Sarg legen, aber ich habe mich nicht getraut.«
    Sie öffnete die Hand, und ich sah, dass es ein Feuerzeug war.
    »Ein Feuerzeug? Für den Kettenraucher?«
    »Damit fing alles an.«
    Auf dem asphaltierten Weg standen immer noch stumm die anderen sechs Ruderer aus dem Olympia-Achter zusammen. Little war jetzt auch eingetroffen und wühlte mit der Schuhspitze im Kies. Zu meiner Verwunderung trug er Turnschuhe.
    Ich schwitzte jetzt noch mehr und hätte gerne meine schwarze Jacke ausgezogen. Arne wäre selbst zu einem solchen Anlass wahrscheinlich in seiner grauen Kapuzenjacke aufgelaufen. Und auf kritische Anmerkungen hätte er einfach nicht reagiert. Überhaupt: Wahrscheinlich wäre er zu einer solchen Beerdigung nicht einmal gekommen. Er hätte kaum eingesehen, dass das wichtig war, schließlich bekam der Tote nichts mehr mit.
    Weil wir alle zusammenstanden, nahm ich den Brief heraus und öffnete ihn. Ich erkannte das Briefpapier des Kreiskrankenhauses, das ich ihm vor einem knappen halben Jahr ans Bett gebracht hatte. Es war ein einzelner Bogen, und er war fast leer.
    »Hört mir zu«, sagte ich zu den Ruderkameraden. »Das hat uns Arne geschrieben.«
    Die anderen rückten näher zu mir her. Als ich den Bogen entfalten wollte, zitterten meine Hände so sehr, dass er mir zu Boden fiel. Little bückte sich rasch, hob ihn auf und hielt ihn mir hin. Als er aufblickte, bemerkte ich, wie rot seine Augen waren. Um klar sehen zu können, musste ich mit dem Ärmel über meine Lider wischen. Arnes dünne, drucklose Handschrift rührte mich an. Ich atmete tief durch, räusperte mich und las vor:
    »Zu dem Ort, wo ich jetzt bin, muss man eigentlich kriechen. Ich bin dorthin gerudert. Es war meine beste Zeit. Arne.«
    Darunter hatte er sein Zeichen gemalt. Die liegende Acht.
    Wieder Stille. Ein Stück von uns entfernt leises Gemurmel, ein Weinen. Ich wusste, dass sich hier alle die gleiche Frage stellten, die niemand beantworten konnte: Warum?
    »Zeig her«, sagte der Trainer und nahm mir das Blatt aus der Hand.
    Little räusperte sich, und sagte:
    »Warum nur musste
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