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Schlagmann

Schlagmann

Titel: Schlagmann
Autoren: Evi Simeoni
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an, hob gemeinsam mit den anderen Arnes Sarg hoch und legte ihn auf die Schulter. All das war seltsam vertraut – auf ähnliche Weise hatten wir viele Male unseren Achter geschultert, zusammen mit Arne. Diese Bewegung, die Erinnerung daran in meinen Muskeln änderte plötzlichalles. Endlich fühlte ich die Trauer und die Wehmut, die ich bisher vermisst hatte, so als füllte sich in meinem Inneren ein Vakuum. So hatten wir unser Boot auch an dem Tag geschultert, von dem wir immer noch behaupteten, dass es der schönste in unserem ganzen Leben gewesen sei. Die alten Bilder kamen zurück: In mir war nur Freude und Lachen gewesen an jenem Tag, nun war die Erinnerung wieder da, ich musste grinsen, jetzt, Jahre später, mit dem Sarg des Schlagmanns auf der Schulter, und ich bedauerte, dass ich nicht über der Trauerkleidung meine Goldmedaille auf der Brust trug.
    Die Orgel spielte einen Trauermarsch, und wir gingen im Gleichschritt voran, wobei unser Bugmann wieder einmal zu lange Schritte machte und die Harmonie störte. Das Bild um mich herum verschwamm, und ich war plötzlich ganz allein. Ich ging über den Kiesweg, Schritt für Schritt, ich ging über ein Stück gelb vertrockneten Rasen, die Sonne brannte auf mich nieder und heizte mein Haar auf, ich war durchnässt vom Schweiß, der aus meinen Achselhöhlen troff. Auf einmal verspürte ich starken Durst, meine Zunge klebte, meine Beine wurden schwach, und ich hatte Angst, zu stolpern, doch als wir im Gleichschritt an Arnes offenem Grab ankamen, wurde das Bild wieder scharf.
    Ich sah die Grube und den Haufen ausgehobener Erde daneben und sagte mir, hier kann ich nicht bleiben. Plötzlich war wieder Mannschaftssitzung, er war wieder bei uns, groß und kräftig, seine Haut glatt und schimmernd, seine hellen Haare reflektierten das Licht, und seine Augen leuchteten. Die Zukunft glitzerte vor uns wie eine Regattastrecke aus Gold. Alle schauten auf ihn, alle warteten darauf, dass der Schlagmann sprach und uns sagte, wie es weitergehen sollte. Wie wir auch dieses Rennen gewinnen würden, und er erklärte uns die Taktik, mit der ein für allemal klar würde, welches der beste Achter auf diesem Planeten war. Wer die stärksten Männer waren. Das waren wir.
    Es war seine beste Zeit.
    Wir standen an seinem Grab, Arne war tot. Er lag auf unseren Schultern, in seinem hölzernen Sarg, wir standen gerade und hatten den Blick nach vorne gerichtet – und zum ersten Mal trugen wir leicht an ihm.

NACHWORT
    Dass der Deutschland-Achter im Jahr 1988 in Seoul Olympiasieger wurde, dürften viele wissen, die sich für Leistungssport interessieren. Daran, dass beim Gewinn der Goldmedaille Bahne Rabe aus Lüneburg auf der Schlagposition saß, erinnern sich diejenigen, die mit Rudern zu tun haben. Sein erschütterndes Ende im Jahr 2001 hat viele Menschen aufgewühlt. Die meisten waren erschrocken darüber, dass in solch einem starken Körper solch eine kranke Seele verborgen sein konnte. Seinen Ruderkameraden führte sein Tod ihre Ohnmacht und die Vergänglichkeit ihrer sportlichen Erfolge vor Augen.
    Uns Sportjournalisten signalisierte Rabes Tod noch etwas anderes. Er stellte unsere Begeisterung für die Bedingungen, unter denen Höchstleistungen entstehen, in Frage. Und unseren gedankenlosen Umgang mit vermeintlichen Helden.
    Ich habe 1988 für die
Frankfurter Allgemeine Zeitung
von den Olympischen Spielen aus Seoul berichtet, 1991 von den Weltmeisterschaften in Wien, wo Rabe den Titel im Vierer mit Steuermann gewann, und ich habe zehn Jahre danach einen Nachruf auf ihn schreiben müssen. So ereignisreich ein Leben als Sportreporter auch sein mag – das Schicksal dieses Ruderers und die Suche nach der Botschaft darin haben mich nicht mehr losgelassen. Ich habe nach Zusammenhängen und beispielhaften Momenten darin gesucht, über Bekanntes gegrübelt und Unbekanntes zu ergründen versucht. Ich habe zahlreiche Gespräche geführt, es dabei aber vermieden, sein Privatleben auszuforschen. Grundlage meiner Arbeit war meine eigene Vorstellungskraft. Darum ist dieses Buch auch keine Dokumentation, sondern eine Fiktion, deren Anlass Leben und Tod Bahne Rabes war. Um zu betonen, dass es sich hier um die Schilderung von Erfundenem,nicht von Erlebtem handelt, habe ich es unterlassen, die jeweiligen Schauplätze genau zu benennen. Es ist aber natürlich kein Geheimnis, dass der legendäre Stützpunkt der Riemenruderer am Dortmund-Ems-Kanal liegt, und dass viele Athleten wegen des Sports dorthin
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