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Schlagmann

Schlagmann

Titel: Schlagmann
Autoren: Evi Simeoni
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rechts entstehen lassen. Zwei helle, sich drehende Quallen, die sich langsam entfernen. Ganze Ketten davon produziert er. Doch auch sie wandern nicht davon. Sie stehen im Wasser. Er ist es, der davonfährt.
    Er kann stillstehen. Das macht ihm nichts. Vor ein paar Jahren ging er einmal im kalten Wasser schwimmen. Erst kraulte er ein paar hundert Meter, so lange, bis seine Haut brannte. Dann legte er sich auf den Rücken, ließ sich treiben, bis ihn jemand vom Ufer aus entdeckte, keuchend auf den See hinausschwamm und ihn am Arm packte. Es war schwer, wieder zurückzukehren aus der Erstarrung, doch der Fremde zerrte an seinem Oberarm mit beiden Händen. Arne herrschte ihn an, er solle ihn in Ruhe lassen, schwamm aber ans Ufer zurück. Als er an Land stieg,merkte er, dass sein Körper blau angelaufen war. Er erinnert sich, wie er mit den Zähnen klapperte, aber die Kälte erreichte sein Inneres nicht. Manchmal wundert er sich selbst, dass er das alles aushält. Die anderen bewundern ihn für seine Härte gegen sich selbst. Sobald er das merkt, fühlt er sich ertappt.
    Inzwischen ist sein Ruderleibchen vor Nässe ganz klebrig, er registriert, wie es über seine steifen Brustwarzen reibt. Er spürt, wie sich seine Bauchmuskeln zusammenziehen. Sie sind glatt und schwer und hängen an ihm wie ein Sprengstoffgürtel.
    Sie arbeiten wie Maschinenteile.
    Er ist eine Maschine, über die der Regen rinnt.
    Genau das will er sein. Der Achter-Schlagmann.
    Er dreht kurz den Kopf und sieht hinter sich. Die Wasserfläche ist leer. Es gefällt ihm, dass er rückwärts fährt. Die Zukunft bedeutet ihm nichts. Er braucht keine Veränderung. Er blickt zurück auf einen blinden Fleck, er versucht, ihm davonzufahren. Er erinnert sich nicht. Seine Kindheit ist fast weg. Seit er sich nicht mehr erinnert, redet er auch kaum mehr, und das Schweigen fühlt sich richtig an. Er weiß, dass viele Dinge nicht ausgesprochen werden dürfen.
    An Land wartet man auf ihn. Er wird reden müssen. Mit seinem Trainer. Und seinem Trainingspartner. Sie kritisieren ihn nicht, dafür ist er zu stark. Aber er spürt, dass sie in seiner Gegenwart nicht locker sind. So, wie auch er nicht locker ist, wenn sie ihn ansehen. Dann ist in ihm nur noch die Abwehr gegen alles, was geschieht.
    Seine Stirn ist kalt. Dahinter fängt ein Kopfschmerz an zu pulsieren. Auch hinter den Wangenknochen schmerzt es. Er presst wieder die Kiefer aufeinander und will weiter zulegen, als der Regen noch schärfer wird. Hagel prasselt auf den See. Arne hört auf zu rudern. Er treibt auf dem Wasser, zieht den Kopf ein und macht seinen Rücken rund. Die Hagelkörner prallen vonseinem Kopf, von den Schultern und Fußspitzen ab und bleiben im Boot liegen. Eine halbe Minute lang vielleicht, länger nicht.
    Mit Fäusten so steif wie Rohrzangen ergreift er die Ruder wieder. Er wendet und hält auf den Steg zu. Als er dort ankommt, steht der Bootsmeister mit einer Wolldecke da.
    Schweigend steigt Arne aus, zieht die vom Wasser vollgesogenen Turnschuhe an, er hat vergessen, sie unter die Bank zu schieben, um sie vor dem Regen zu schützen. Er bückt sich, wuchtet mit einem tiefen Atemzug sein Boot aus dem See und über seinen Kopf und geht mit raschen Schritten an dem Bootsmeister vorbei. Das Wasser aus dem Bootskörper klatscht auf den Asphalt.
    Arne, ruft der Bootsmeister, Arne, nimm doch die Decke. Du holst dir noch den Tod. Er wendet sich nicht um.

MÜLLER,
    eigene Aufzeichnungen, 2008
    Ich wische mit einem gelben Tuch über die schwarze Fläche, und langsam werden einzelne Buchstaben wieder lesbar: Das »P« ist als Erstes wieder da, in nüchterner Helvetika gesetzt, dann unter Schlieren das »a«. Ich werde ungeduldig und schrubbe heftiger auf dem Silberteller herum. Er ist lächerlich groß, ungefähr wie ein Lenkrad. 17 Jahre lang ist er in meinem Aktenschrank vergammelt. Ich bin dabei, meine Sachen zu ordnen – Ende des Jahres ist für mich Schluss mit dem Job. Plötzlich halte ich den Teller in meinen Händen. Statt meines Gesichts sehe ich darin nur eine stumpfe Schicht aus Dreck. Ich habe ein Staubtuch aus der Küche geholt und mich mit dem Teller an den Schreibtisch gesetzt. Unter dem schwarzen Film muss ich selbst sein, der törichte Paco von damals, der mit 48 Jahren immer noch glaubte, der große Spaß werde schon noch kommen.
    Ein wenig Asche von der Zigarette in meinem Mund fällt auf den Teller, ich reibe weiter in größer werdenden Kreisen wie an einer Wunderlampe, aber ich
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