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Schlaflos

Schlaflos

Titel: Schlaflos
Autoren: Monika Bender
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Stahlflügel weiter aufschwang.
Die Fremde hatte die Wahrheit gesagt. Hinter der Tür aus Tonys Gefängnis befand
sich ein kurzer Flur, den eine zweite Stahltür verschloss. In der Schleuse
hielt sich nur eine etwas mollige junge Frau auf, die ein schwer beladenes
Tablett auf den Armen balancierte.
    Als Nora Tonys bleiches Gesicht erblickte, lächelte sie
beruhigend.
„Ich bringe Ihnen Tee und ein paar Biskuits“, verkündete sie, während sie den
Couchtisch ansteuerte und ihre Last darauf ablud. Es gab ein metallisches
Geräusch – die Tür schien selbsttätig wieder ins Schloss gefallen zu sein.
Tony verspürte einen Stich im Magen.
Es geschah ihr ganz recht, wenn sie getötet wurde!
Sicher hätte es eine Möglichkeit gegeben, diese Situation zu ihrem Vorteil zu
nutzen. Doch sie hatte die Gelegenheit ebenso verstreichen lassen, wie ihre
letzten freien Minuten im Kino, als sie glaubte, es hätte keinen Sinn davon zu
laufen.
Jetzt stand sie wie betäubt da und beobachtete, wie Nora Teegeschirr und Gebäck
auf dem Tisch arrangierte. Wenn sie eine etwas beherztere Person wäre, würde
sie Nora niederschlagen und als Geisel gegen ihre Freiheit eintauschen, schoss
ihr durch den Kopf.
    Die Frau war kleiner als Tony. Das kunstvoll aufgetürmte,
goldblonde Haar ließ sie größer wirken, als sie war. Sie trug einen edel
schimmernden, weinroten Hausanzug, der ihre kurvige Figur betonte. Mit den
zarten, sorgfältig manikürten Händen machte sie nicht den Eindruck, als hätte
sie Ahnung von Selbstverteidigung. Tony kam sich neben ihr sportlich und stark
vor. Aber zwischen dem Gedanken, sich körperlich überlegen zu fühlen und der
Realität, tatsächlich jemanden anzugreifen, lagen Welten.
    Nora ließ sich auf dem Sofa nieder und schenkte Tee ein.
„Bitte setzen Sie sich doch zu mir und trinken Sie eine Tasse mit mir. Tony,
nicht wahr? Das ist bestimmt eine Abkürzung?“
Sie klopfte neben sich auf das Sofa.
Tony rührte sich nicht. „Sind Sie auch eine ...?“
„Ich bin kein Vampir, wenn es das ist, was Sie wissen möchten.“
Dass Nora sich selbst Tee eingoss und eine ordentliche Menge Zucker in die
Tasse schaufelte, schien ihre Behauptung zu bestätigen.
„Aber Sie sind freiwillig hier.“
Die Blondine nickte lebhaft. Den Vorwurf in Tonys Stimme ignorierte sie.
„Bitte, setzen Sie sich und nehmen Sie etwas zu sich. Sie werden sehen, dann
sieht die Welt gleich ganz anders aus.“
    Tony ließ sich zögernd in einen der Sessel sinken, während
Nora Törtchen mit gemischten Früchten auf die Teller bugsierte. Mitfühlend
tätschelte sie Tonys Hand.
„Haben Sie keine Angst. Ich weiß, das ist eine furchtbare Situation. Niemand
wird Ihnen wehtun. Das verspreche ich Ihnen.“
Tony blickte in Noras Augen. Die Erkenntnis, dass sie dieses helle und dennoch
intensive Blau kannte, war erschreckend.
„Wer sind Sie?“
„Ich bin Lukas Mutter – und Johanns Gefährtin natürlich.“
    Tony fand daran absolut nichts Natürliches. Diese Frau sah
keinen Tag älter aus als sie selbst. Im Gegenteil. Ihr rosiger Teint, die
perfekte Haut und die gesunden Haare ließen sie jünger wirken. Anfang zwanzig,
schätzte Tony, trotz der altmodischen Frisur.
„Das glaube ich nicht.“
Nora lächelte über den beleidigten Unterton.
„Trotzdem ist es wahr. Ich bin zwar kein Vampir, aber als Johanns Gefährtin
habe ich eine sehr hohe Lebenserwartung, könnte man sagen.“ Sie beugte sich
verschwörerisch vor. „Ich bin viel älter, als Sie vermuten würden.“
    Tony fühlte sich schwindelig. Sie trug die abwegige
Vorstellung, Lukas sei ein Vampir, seit Tagen mit sich herum. Dennoch konnte
sie nicht fassen, wie unbeschwert diese Fremde im Plauderton über solche
Ungeheuerlichkeiten sprach.
    Nora machte eine einladende Geste zu Tonys Teller. In ihrem
benebelten Zustand griff Tony danach und schaufelte sich eine Gabel Kuchen in
den Mund. Sobald sie den süß-herben Geschmack der Früchte auf der Zunge spürte,
begann ihr Magen protestierend zu knurren. Sie hatte wahnsinnigen Hunger.
Dennoch überkam sie nach dem Bissen sofort wieder die Angst, zumal Noras Augen
forschend auf ihr ruhten.
„Sagen Sie mir die Wahrheit! Ist das vergiftet?“, nuschelte sie mit vollem
Mund.
Nora kicherte. „Aber nein!“
Sie griff nach ihrem eigenen Teller und aß demonstrativ.
    Eine kleine Weile tat Tony nichts anders als essen und
trinken. Ihr wurde tatsächlich wohler.
„Also ist Lukas wirklich ein ...“, fast unmöglich, das Wort auszusprechen.
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