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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul
Autoren: Vera Hohleiter
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war als Letzte an der Reihe. Auch ich zerteilte die Platte mit einem Schlag in zwei Hälften. Die
     beiden Hälften fielen knallend zu Boden.
    Ich überlegte, was es zu bedeuten hatte, dass man erst seine Wünsche und Träume auf die Holzplatte schreiben musste und sie
     dann zerbrach.
    Andere Formen des Wünschens, die mir an anderen Orten begegnet waren und die ich alle ausprobiert hatte, kamen mir in den
     Sinn: Wunschbäume, an die man Zettel hängen kann, Steinhaufen, bei denen jedes Steinchen einen Wunsch symbolisiert, Voodoo-Kulte,
     beschriftete Wunschtafeln und Wunschkacheln aus Ton, Botschaften, die in die Klagemauer gesteckt werden, Heiligenanrufungen,
     Gebete und Beschwörungen, das Anzünden von Kerzen, das Auspusten von Geburtstagskerzen, das Drachenfliegenlassen   …
    Vielleicht war die zerbrochene Wunschtafel wirklich nur eine Form des Wünschens, aber ich kam letztendlich zu einem anderen
     Schluss: Meiner Meinung nach bedeutete das Zerschlagen der Platte auch das Zerschlagen der Wünsche, das Loslösen von Träumen
     und Ambitionen, das Zerstören des eigenen Egos. Kein Koreaner, dem ich jemals von meiner Taekwondo-Erfahrung erzählte, bestätigte
     mir meine Theorie. Vielleicht war sie wirklich zu weit hergeholt, zu wirr und zu esoterisch. Die Gedanken, die mir an diesem
     Augusttag bei Hoki Taekwondo durch den Kopf gingen, waren konfus und exaltiert. So wie ich selbst in Korea oft konfus und
     exaltiert war.
    Alles, was ich später über Korea lernte, schien jedoch meine Theorie zu unterstützen. Der Tigerstaat Korea hatte sich in kürzester |167| Zeit in die Oberliga der Weltwirtschaft gekämpft – ohne Rücksicht auf Verluste. Die rasante wirtschaftliche Entwicklung brachte
     ein ganzes Heer trauriger Anzugträger hervor, die todmüde in der U-Bahn einschliefen und den Erfolg ihrer Firma über ihr persönliches Glück stellten, denen der Akt des Wünschens so absurd vorkam
     wie mir in dem Moment, als meine Holzplatte bei Hoki Taekwondo krachend zu Boden fiel.
    Der Tag bei Hoki Taekwondo endete mit einer feierlichen Abschlusszeremonie, bei der jedem Teilnehmer ein Zertifikat in einer
     Samtmappe überreicht wurde. Wir mussten die Mappe mit einer feierlichen Verbeugung annehmen. Das Zertifikat sah eindrucksvoller
     aus als mein Diplomzeugnis von der FU in Berlin.
    Bei der Verabschiedung wollte Master Ryan wissen: »Wie hat es Ihnen gefallen?«
    »Gut, aber ich glaube, ich werde nie richtig Taekwondo lernen. Dazu bin ich wohl zu alt und zu steif.«
    »Dafür ist man nie zu alt. Das ist nur eine Frage des Trainings.«
    Ich verabschiedete mich höflich und ließ mir keine weiteren Trainingsratschläge geben. Ich ahnte schon, dass mir am nächsten
     Tag jeder Muskel weh tun würde.
    In einer Mülltonne am War Memorial Museum entsorgte ich meine zerbrochene Wunschplatte. Ich wunderte mich über mich selbst.
     Normalerweise war ich eine leidenschaftliche Sammlerin von objets trouvés. Wenn ich in einem Buch aus der Bibliothek ein vergessenes
     Lesezeichen – einen Einkaufszettel, eine alte Postkarte oder eine Notiz – fand, brachte ich es nie über mich, es einfach in
     dem Buch zu lassen oder es wegzuwerfen. Wenn ich in einem Fotoautomaten liegen gelassene Passfotos entdeckte, nahm ich sie
     an mich. Jeder Gegenstand, der mir auch nur einen kleinen Einblick in die Privatsphäre oder in die Gedankenwelt anderer Menschen
     verschaffte, schien mir unendlich wertvoll und inspirierend. Die zerbrochene Wunschplatte |168| einer anderen Person hätte ich vermutlich als meinen wertvollsten Schatz und mein kuriosestes Objekt aufbewahrt. Der symbolische
     Wert und die poetische Kraft der zerschlagenen Platte wären einfach zu verführerisch für mich gewesen.
    Meine eigene Platte aber warf ich achtlos weg und ging mir die Ausstellung im War Memorial Museum ansehen.

|169| Urlaub auf Koreanisch
    Koreaner vergleichen sich selbst oft mit Italienern, ihr Reiseverhalten jedoch ähnelt eher dem, das man den Niederländern
     nachsagt: Sie packen große Essensvorräte ein und kaufen vor Ort kaum etwas – zumindest keine Lebensmittel. Luxusgüter erwerben
     sie bei Auslandsreisen dagegen in großen Mengen. In Korea sind importierte Waren absurd teuer, und so wird eine Europareise
     für Koreaner eher zur Schnäppchenjagd als zur Bildungsreise.
    Das Interesse an europäischer Kultur ist ohnehin meist eher oberflächlich und so wird das Kulturprogramm in europäischen Großstädten
     oft in Form einer eiligen
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