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Schillerhoehe

Schillerhoehe

Titel: Schillerhoehe
Autoren: Oliver Schaewen
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sion aus seinem Verlies befreit worden war und sich nun über das beugte, was von Sven Dollinger übrig geblieben war.
      »Dollinger. Ihm ist nicht mehr zu helfen«, sagte Struve und legte ihm seine Jacke über Gesicht und Oberkör­ per.
      »Wo ist Frau Förster?«, fragte Hans Kottsieper, der von Ilse Bäuerle über ihren mutigen Vorstoß in den Keller informiert worden war.
      »Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
      Betretenes Schweigen machte sich breit.
      Plötzlich hörten sie Klopfgeräusche. Es kam aus dem großen Magazin. In der Hoffnung, es könnte Melanie Förster sein, liefen sie alle zu dem Metallschrank, aus dem die Laute drangen. Sie öffneten die Tür und sahen eine sichtlich mitgenommene Kommissarin, die hus­tend ein altes Buch in der Hand hielt.
      »Das ist Wilhelm Tell in der Erstfassung des Jahres 1804.«

    1 6

    Welch schöner Maientag, dachte Struve, als er neun Monate nach der Explosion im Literaturarchiv über die Schillerhöhe schritt und das Meer der Gänseblüm­ chen auf der üppig sprießenden Wiese der Parkanlage bewunderte. Er atmete die frische Luft tief ein und blin­ zelte in die Sonne. Hunderte geladene Gäste fanden sich an diesem Sonntagnachmittag auf dem Museumsvor­ platz ein. Der Keller und die Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs sollten feierlich wieder­ eröffnet werden. Struve mochte solche gesellschaftlichen Ereignisse nicht, diesmal aber trieb ihn eine Mischung aus Neugierde und anhaltender Überlebensfreude an den Ort. Er selbst hatte die Explosion im Keller ohne Blessuren überstanden. Melanie Förster musste jedoch mit einem gebrochenen Arm und einer Platzwunde am Kopf ziemlich lange eine Gipsmanschette und einen Verband tragen. ›Mit Grips und Verstand wäre das nicht passiert‹, hatte sie an ihrem ersten Arbeitstag im Stutt­ garter Polizeipräsidium zwei Wochen nach der Explo­ sion gescherzt. Struve, der sich bei der Aktion im Kel­ ler nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, entwickelte das Wortspiel weiter, als er in der Telefonkonferenz von seinem Bietigheimer Büro aus ihre Stimme hörte. Sein Spruch: ›Den Grips im Versand – und schon ists pas­ siert‹, wurde während der langen, dunklen Wintermo­ nate zum Dauerbrenner und hellte an trüben Tagen in den Büros der Polizeidirektionen Stuttgart und Lud­ wigsburg so manches Mal die Stimmung auf.Vor dem Schiller­Nationalmuseum traf Struve die Kollegin Förster. »Nanu, Sie haben sich ja so schick gemacht«, staunte Struve in der Absicht, ihr ein Kom­ pliment zu machen. Bei über 30 Grad hatte sich die Kommissarin entschlossen, zur Abwechslung einmal ein sommerliches weißes Kleid, das ihre Figur äußerst vorteilhaft betonte, anzuziehen. Die Blicke der Män­ ner, die vor dem Museum warteten, blieben jedenfalls an ihren Hüften hängen und wanderten, je nach per­ sönlicher Vorliebe, entweder in die oberen oder unteren Regionen ihres schlanken Körpers. Die sparsam einge­ setzten Textilien versperrten den Blick auf das Wesent­ liche kaum, und Melanie Förster gefiel das ebenso wie der luftige große Hut, den sie dazu trug.
      »Na, möchten Sie mich nicht in den Saal führen, Herr Kollege?«
      »Nichts lieber als das«, brachte Struve hervor, und er dachte für einen Moment daran, dass nicht viel gefehlt hatte, und sie wären frühzeitig zu Gän­ seblümchendünger geworden. Es gelang ihnen, im Festsaal Plätze im mittleren Bereich zu ergattern. Von dort aus hatten sie einen guten Blick auf die Promi­ nentenriege in den ersten Reihen. Ganz vorne stand der Marbacher Bürgermeister Norbert Rieker, dessen Wiederwahl in wenigen Wochen dank der hervorra­ genden finanziellen Situation der Stadt als gesichert galt. Nur die orangefarbene Liste hatte einen Gegen­ kandidaten aufgestellt, der aber als chancenlos galt. In nächster Nähe zu Rieker stand der Bundestagsabge­ ordnete Walter Steinhorst. Neben dessen gewaltiger Körpermasse wirkte der Marbacher Verwaltungschef wie ein Spargeltarzan.
      »Der hat aber gut gefrühstückt«, flüsterte Struve sei­ ner Kollegin zu.
      »Der lebt ja auch von unseren Diäten«, kommen­ tierte Melanie Förster trocken.
      Vorne stand auch der neue Chef der Schillerhöhe, Werner Freund. Der lang aufgeschossene Germanist hatte dank einflussreicher Fürsprecher aus dem kon­ servativen Lager der Schillergesellschaft den Posten bekommen. Man wollte offenbar ein Zeichen setzen, damit erst gar nicht der Gedanke an einen
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