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Schillerhoehe

Schillerhoehe

Titel: Schillerhoehe
Autoren: Oliver Schaewen
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Vertrauen der Eheleute. Auch Rieker verzich­ tete auf eine Strafanzeige, zumal er nicht wollte, dass sein Diebstahl des Tell­Manuskripts im Literaturarchiv noch einmal unter die Lupe genommen wurde.
      Der Kulturamtsleiter Fabian Rösler unterbrach die
    Begegnung von Rieker und Selldorf. Er tippte den Bür­ germeister vorsichtig von der Seite an und zeigte auf den bereits gut gefüllten Saal. Rieker nickte und trat nach vorne, um seine Begrüßungsrede zu halten.
      »Verehrte Gäste«, hob er an, als plötzlich eine Sei­ tentür geöffnet wurde.
      Alle Blicke richteten sich plötzlich auf die laut knar­ rende Tür. Struve traute seinen Augen nicht: Es war seine Frau Marie.
      Sie hatte sich mordsmäßig aufgedonnert und ein schi­ ckes Abendkleid angezogen. Cool ging sie an der ersten Reihe vorbei. Nur ihre Lack glänzenden Stiefel waren völlig verdreckt.
      »Huch!«, rief sie, »da bin ich wohl etwas zu spät, ent­ schuldigen Sie.« Sie blickte auf ihren Mann und ging unter den Blicken der Gäste quer durch den Saal zu ihm hin. »Blöde Pfütze, gleich neben dem einzigen freien Parkplatz«, flüsterte sie ärgerlich zu ihm herüber, nach­ dem Besold den Platz neben ihm geräumt und sich an den Rand der Reihe gesetzt hatte.
      Struve küsste sie sanft auf beide Wangen. »Hab mich gewundert, wo du bleibst, Schatz. Schau mal, der Bür­ germeister ist schon ganz aus dem Konzept.«
      Das war freilich übertrieben. Norbert Rieker hatte den unerwarteten Auftritt mit einem »Schön, dass wir noch so einen reizenden Besuch bekommen haben« überbrückt. Ein Saaldiener stellte sich jetzt vorsichts­ halber an den Nebeneingang, und so fuhr das Stadt­ oberhaupt fort, über die Freiheit, Schiller und die Frei­ heit des Forschens und Dichtens zu philosophieren. »Glücklicherweise ist der Explosion vor neun Mona­ ten nur ein geringer Teil des Bestandes an Schriften, Originalen und Nachlässen berühmter Schriftsteller zum Opfer gefallen«, erklärte Rieker. Und gottlob habe Berlin den Wiederaufbau der unterirdischen Magazine finanziert. So könnten die Germanisten aus der ganzen Welt wieder ihren Forschungsprojekten in den Lese­ sälen und den Tiefen des Kellers nachgehen.
      »Ich möchte Sie, verehrte Gäste, einladen, heute einmal in unseren Archivräumen ganz entspannt auf den Spuren unseres verehrten Dichtergenies Friedrich Schiller zu wandeln.«
      Als Nächstes betrat Werner Freund, der neue Direk­ tor der Schillerhöhe, das Rednerpult. Er bedankte sich für die Wiederaufbauhilfe. Das Magazin habe zwar einige wertvolle Stücke wie etwa das Originalmanu­ skript von Franz Kafkas Der Prozess unwiederbring­ lich verloren, doch wolle man nach vorne blicken. Freund ließ auch die Verdienste seines Vorgängers Sven Dollinger nicht unerwähnt, bedauerte aber, dass der verstorbene Direktor so wenig Anstrengungen unternommen hatte, den Wert der sozialismuskriti­ schen Gegenwartsliteratur durch publikumsintensive Veranstaltungen stärker im Bewusstsein zu verankern. Peter Struve dachte an Erika Scharf, die von Dollin­ ger ermordet worden war, weil sie zu viel wusste. Er hätte sie retten können, aber sie verpasste die Chance, sich ihm rechtzeitig anzuvertrauen. So nahm sie ihr Geheimnis mit ins Grab, wo auch ihr Mann Diet­ mar, Dollinger und Schäufele mit ihrer unbewältigten Vergangenheit gelandet waren. Struve dachte in die­ sem Moment an die Fotografie von Santos, auf der zu sehen war, wie Franz Schäufele seinem Opfer Dietmar Scharf an jenem Abend einen Gegenstand überreicht hatte. Wie sich herausgestellt hatte, war es der Schlüs­ sel zu einem Nebeneingang des Literaturarchivs gewe­ sen, der direkt in den Keller der Handschriftenabtei­ lung führte. Schäufele musste Scharf betont freund­ lich begegnet sein und ihm von seiner Arbeit als Bib­ liothekar und angeblicher Hüter des Kafka­Nachlas­ ses erzählt haben. Ihm nächtens unbedingt noch das berühmte Manuskript zeigen zu wollen, war ein star­ ker Köder. Scharf hatte bestimmt auch deshalb keinen Verdacht geschöpft, weil Schäufele sich seit Jahrzehn­ ten nicht gemeldet und er damit die Vergangenheit für bewältigt gehalten hatte. Der Kommissar blickte wie­ der nach vorne und hörte dem neuen Direktor zu. Er verstand, dass Freund die Arbeit von Sven Dollinger an dieser Stelle würdigen musste. Für Struves persön­ liche Bilanz des Falles hatte jedoch die Erinnerung an Erika Scharf und die Toten an der innerdeutschen
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