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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind
Autoren: Luanne Rice
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oft vor dem Fernseher saß, nach Quinns Geschmack.
    Mrs. McCray, eine andere Nachbarin, kurbelte die Fensterscheibe ihres blauen PKW herunter und lächelte. Mrs. McCray lebte schon ewig in ihrem Haus, hatte ihre Mutter und Tante gekannt, seit sie noch jünger gewesen waren als Quinn und Allie. Sie war uralt, hatte weiß-blau schimmernde Haare, und auf den Klippen hinter ihrem Anwesen bildeten sich bei Ebbe die besten Wassertümpel mit den meisten Krebsen und Seesternen.
    »Ist Dana schon da?«, erkundigte sie sich lächelnd.
    »Noch nicht. Aber sie muss jede Minute kommen«, erwiderte Allie, während Quinn schweigend geradeaus blickte.
    »Wunderbar, und unglaublich aufregend. Man stelle sich nur vor, den weiten Weg von Europa hierher zu kommen, nur wegen einer Vernissage! Einige Künstler arbeiten ein ganzes Leben lang, ohne bekannt zu werden. Wir sind alle sehr stolz auf sie. Eure Mutter und eure Tante haben auf meinen Klippen mit dem Malen begonnen, müsst ihr wissen. Ich besitze die Bilder, die sie mir geschenkt haben, noch heute.«
    »Tante Dana ist die beste Malerin, die es gibt«, sagte Allie.
    »Ja, das stimmt. Aber sie sollte nicht vergessen, wo alles angefangen hat. Richtet ihr doch bitte aus, dass ich mich freue, sie morgen Abend in der Black Hall Gallery zu sehen. Wir werden alle da sein!«
    »So ein Glück für uns!«, murmelte Quinn mit zusammengebissenen Zähnen, als Mrs. McCray wegfuhr.
    Allie antwortete nicht. Sie machte es sich wieder auf der Steinmauer bequem. Bei genauerem Hinsehen erkannte Quinn, dass Allie sich in Pose gesetzt hatte. Ihre Haltung verriet, dass sie wusste, wie sie ihre Vorzüge bestmöglich zur Geltung brachte: Sie hatte die Beine unter dem Gesäß angewinkelt, die goldblonden Haare leuchteten in der Frühlingssonne.
    »Du hast es wohl darauf angelegt, dass sie dich malt!«, sagte Quinn.
    »Mir egal.«
    »Stimmt nicht. Das sehe ich dir an.«
    Allie fuhr herum. »Du hättest dich ruhig umziehen können.« Sie musterte Quinns zerrissene Jeans und das verblichene Sweatshirt. Beim Anblick der Frisur ihrer Schwester – Quinn hatte ihre Haare zu dreiundsechzig dünnen Rattenschwänzen geflochten, die wie ein Bündel ausgedienter Springfedern in allen Richtungen vom Kopf wegstanden – erschauerte sie. »Du willst sie wohl gleich wieder vertreiben.«
    »Mir ist völlig egal, was sie macht. Wen interessiert es schon, ob sie bleibt oder geht?«
    »Da kommt sie!« Allie spähte die Straße hinunter. Die Schatten der hohen Eichen und Kiefern sprenkelten den Teer, verliehen dem sich nähernden Wagen ein dunkles, geheimnisvolles Aussehen. Es war eine Flughafen-Limousine, dunkelblau mit Dellen, ein Leihwagen der Art, wie Tante Dana ihn immer nahm, wenn sie zu Besuch kam. Oben auf dem Hügel fiel eine Tür ins Schloss. Ohne sich umzudrehen, wusste Quinn, dass ihre Großmutter vor die Tür getreten war, um besser zu sehen. Die Autotür öffnete sich, und eine zierliche Frau stieg aus. Sie hatte ungefähr die gleiche Größe wie Quinns und Allies Mutter, silbern schimmernde, braune Haare und strahlend blaue Augen; sie trug Jeans und einen Wind abweisenden Anorak und machte eher den Eindruck, als wäre sie einem Segelboot als einem aus der Großstadt kommenden Auto entstiegen.
    »Sie sieht wie Mommy aus«, sagte Allie atemlos, als hätte sie es vergessen und ihre Tante nicht erst vor einem Jahr gesehen.
    Quinn brachte keinen Ton heraus. Allie hatte Recht. Tante Dana und ihre Mutter hatten sich immer sehr ähnlich gesehen. Sie hatten nicht nur die gleiche Größe, sondern auch den gleichen Ausdruck in den Augen – wissbegierig, sympathisch und stets zu einem Lachen bereit. Dennoch verzog Quinn mürrisch das Gesicht und hatte keine Ahnung, was sie bewog »Sieht sie nicht« zu sagen; die Worte drangen ohne ihr Zutun über ihre Lippen.
    »Hallo! Ihr beide seid in dem einen Jahr so gewachsen, dass ich euch kaum wiedererkenne«, sagte Tante Dana.
    »Wie lange bleibst du?«, rief Allie, lief auf die Straße und stürzte sich in die ausgebreiteten Arme ihrer Tante.
    »Nicht ganz eine Woche.« Tante Dana lächelte Quinn über Allies Kopf hinweg an. »Aquinnah Jane. Bist das wirklich du?«
    Quinns Füße setzten sich von selbst in Bewegung. Sie sprangen von der Mauer und machten drei Schritte auf ihre Tante zu. Doch dann schlugen sie abrupt die Gegenrichtung ein und rannten los – schnell und immer schneller, die Cresthill Road entlang, zu den Felsen, die Mrs. McCrays Haus vorgelagert waren, und
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