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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Luft durch die Nase einsog.
    Einen Augenblick später begann er mit betont modulierter, deutlich beherrschter Stimme zu sprechen.
    »Weißt du eigentlich, was ich von dir halte?«, erkundigte er sich, und die Frage wirkte absurd und seltsam losgelöst von den banalen Gesprächsfetzen des Morgens. Für Anne das Zeichen, dass es einen Grund für seine Verärgerung gab.
    Sie schwieg, ballte die Hände zu Fäusten, bis sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben. Sie konzentrierte sich auf den Schmerz, für sie ein Beweis, dass es sie überhaupt noch gab. Als sich ihre Finger entspannten, hatten die Nägel deutliche halbmondförmige Markierungen auf dem rosa Fleisch ihrer Handinnenseite hinterlassen.
    Charles starrte sie an, den Blick voller Verachtung, den Kopf fragend leicht zur Seite geneigt. »Also?«, erkundigte er sich gedehnt, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind.
    Anne fühlte, wie all ihre Muskeln vor Anspannung zuckten. »Nein«, antwortete sie und merkte, wie sich ihre Stimme praktisch in Luft, in nichts auflöste, kaum dass das Wort heraus war. Sie stand bewegungslos da, gespannt und aufmerksam auf das wartend, was als Nächstes kommen würde, das feuchte Geschirrtuch krampfhaft in der Hand haltend.
    Charles hüstelte sanft hinter vorgehaltener Hand. Er sah sie an, und sein Blick schien glanzlos, wie mit einem Belag überzogen – wie die Schmutzschicht, die auf einer Fensterscheibe sichtbar wird, in der das Licht sich fängt. »Du ekelst mich an«, erklärte er so tonlos, dass es wie ein Flüstern klang. Und sie fragte sich zum wiederholten Mal, wann es sie in den Wahnsinn treiben würde. »Wenn ich dich nur sehe mit deinen Geschirrtüchern, schmutzigen Schürzen und deiner verhärmten Miene. Wenn ich deine permanent weinerliche, nölende Stimme höre, mit der du mir sinnlose Fragen stellst.« Er hielt inne, trank einen Schluck Tee, und einen Moment lang dachte Anne, damit sei alles gesagt. Doch gerade, als sie sich abwenden wollte, setzte er den Becher übertrieben vorsichtig ab und fuhr fort: »Du!« Sein ausgestreckter Finger schnellte in ihre Richtung. »Du! Du mit deinen müden Augen, deinen Falten und deinen überquellenden, hausmütterlichen Speckröllchen, den dünnen Lippen und …« Er verstummte und schüttelte den Kopf, als könne er es selbst nicht begreifen. »Dabei bist du einmal so unglaublich schön gewesen.«
    Anne trat an die Spüle und machte sich an den Wasserhähnen zu schaffen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Sie war dem Weinen nahe und selbst erstaunt, wie tief er sie noch immer verletzen konnte. Sie hatte sich an seine Gemeinheiten gewöhnt, an seine willkürlichen Ausbrüche unterdrückten Zornes. Sicher hätte sie mittlerweile dagegen immun sein, in der Lage sein müssen, seine Grausamkeiten zu ignorieren. Warum ging sie nicht einfach raus aus der Küche? Warum ging sie nicht aus dem Haus, verließ diesen Mann für immer? Warum stand sie hier wie angegossen, nahm jeden verbalen Boxhieb hin, als habe sie ihn verdient?
    Etwas hielt sie hier, ein seidener Faden, der sie an ihn band, der sich um ihre Hand- und Fußgelenke wand, um ihre Brust, so eng, dass er sie bewegungsunfähig machte.
    Sie ertappte sich dabei, dass sie an ihre Jugend dachte, an ihre mittlerweile verwelkte Schönheit, an ihren einst so schlanken Körper, den Charles so bewundert hatte. Einmal, in jenen Anfangstagen, als sie nebeneinander im Bett gelegen hatten, hatte er ihren schmalen Arm hoch ins Licht gehalten, so dass die zart gespannte Haut zwischen ihren Fingern wie Perlmutt im Gegenlicht der Sonne geschimmert hatte.
    »Fast durchscheinend«, hatte er bemerkt, bevor er ihren Arm wieder sanft auf die Laken gelegt und sich abgewandt hatte. Und sie erinnerte sich an das Glücksgefühl, das dieses kleine, leidenschaftslose Kompliment in ihr ausgelöst hatte. War sie wirklich so anspruchslos gewesen?
    Aber das war Jahre her: Es war einer anderen Frau in einer anderen Zeit geschehen. Als sie sich an der Spüle umsah, der Blick verschwommen von aufsteigenden Tränen, merkte sie, dass Charles bereits nicht mehr da war.
    Die Krankenschwester kommt herein, um die Infusionen zu kontrollieren, und lächelt mit kurzem Nicken in Annes Richtung, wie man das aus Krankenhausserien kennt. Dieses Verhalten verstärkt Annes Gefühl, in einem Film zu sein. Natürlich, überlegt sie, ist auch die Schwester Teil des Betrugs. Er hatte das ganze Krankenhaus bestochen, sie dazu gebracht, seine Komödie mitzuspielen.
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