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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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auf die Wange zu küssen, und Anne, die Sinne in der Dunkelheit geschärft, fühlte die trockene Puderschicht auf ihrer Haut und die cremige Konsistenz des Lippenstiftes, und atmete das aufregend erwachsen riechende Duftgemisch aus Nikotin und Alkohol ein. Und noch immer hielt sie die Augen geschlossen. Ihre Eltern mussten gewusst haben, dass sie wach war, gingen jedoch auf das Spiel ein, machten bei der harmlosen Kinderlüge mit.
    An all das denkt sie jetzt, während sie ihren Mann betrachtet, der im Krankenhausbett liegt, an zahlreiche Schläuche und Infusionen angeschlossen. Er wirkt irgendwie gespielt, dieser erzwungene Schlaf. Seine Brust hebt und senkt sich. Seine Augen sind geschlossen, seine Mundwinkel nach unten gezogen. In den vergangenen Tagen hat sich ein dunkler Flaum Bartstoppeln über die bleichen Falten seines Gesichts gelegt, wie Adlerfarn über eine Böschung. Dieser Schlaf ist alles andere als überzeugend. Es hat den Anschein, als spiele er seine Rolle allzu bemüht. Gelegentlich beginnt sein linkes Augenlid leicht zu zucken, ausgelöst durch den elektrischen Impuls irgendeiner Synapse in seinem Inneren.
    Sie kennt die Fakten. Die Ärzte hatten ihr erklärt, er läge im Koma, und sie hatte ernst genickt, überzeugend den Eindruck einer Frau Mitte fünfzig vermittelt, die weiß, was von ihr erwartet wird. Sie hatte alles Weitere in die Hand genommen, Personen informiert, sich am Telefon ruhig und vernünftig gegeben und das Nötige veranlasst. Sie war auf dem Polizeirevier gewesen, um sein Fahrrad abzuholen, das durch den Unfall seltsamerweise fast unbeschadet geblieben war, der graue Metallrahmen glatt, glänzend und kühl in ihrer Hand. Sie hatte Taschen gepackt und aufgeräumt, Formulare ausgefüllt und seine Verlegung in eine Privatklinik veranlasst, deren Kosten seine Versicherung übernahm. Sie hatte den Rindfleischtopf eingefroren. Sie hatte in dem Bewusstsein weitergemacht, dass alle genau das von ihr erwarteten.
    Dennoch gibt es einen Teil ihres Unterbewusstseins, der das Ganze für einen ungeheuerlichen Scherz fern jeder Realität hält, der vermutet, dass ihr Mann sich in diesem Krankenbett nur schlafend stellt, sich wieder einmal in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit drängt, wie er das auch im Alltag immer wieder geschafft hatte. Sie weiß, dass er eine Rolle spielt, sie etwas glauben macht, das reine Fiktion ist. Aber, denkt sie stumm, diesmal täuschst du mich nicht.
    Und dann, während sie auf seinen ausgestreckten Körper herabsieht, wird ihr bewusst, wie absurd diese Gedanken sind. Sie registriert mit einem Mal entsetzt, wie gleichgültig der Zustand ihres Mannes sie lässt. Sie versucht, mit Zärtlichkeit an ihn zu denken, sich an eine liebevolle Geste oder ein herzliches Wort zu erinnern, die sie in den letzten Tagen ausgetauscht hatten. Stattdessen kommt ihr nur die letzte Unterhaltung in den Sinn, jener Wortwechsel kurz bevor Charles aus der Tür gestürmt war, in seinem Fahrradanorak mit Leuchtstreifen, den Reißverschluss offen, so dass die Jackenschöße beim Gehen im Wind flatterten.
    Er hatte ihr nicht gesagt, wo er hinwollte, und als sie gefragt hatte, hatte er nicht einmal den Kopf gehoben, um zu signalisieren, dass er ihre Frage überhaupt gehört hatte. Stattdessen hatte er nur ungerührt seinen Frühstückstee geschlürft.
    »Charles?«
    Er sah auf. Sein Blick traf sie mit gewohnter Gleichgültigkeit.
    »Ja?«
    »Ich wollte nur wissen, wo du hingehst«, wiederholte Anne, hörte, wie verzagt ihre Stimme klang, registrierte den quengeligen Unterton und hasste sich dafür.
    Er stellte seinen Teebecher stumm und mit Nachdruck ab. Der Becher landete mit einem dumpfen ›Plopp‹ auf der Tischplatte, und ein Teil der Flüssigkeit schwappte über den Rand auf das helle Kiefernholz. Anne starrte auf die kleinen braunen Lachen, die sich bildeten, und versuchte, jeden Augenkontakt mit ihm zu vermeiden.
    »Warum sollte dich das was angehen?«, entgegnete er aufreizend gelassen. Vermutlich wäre die Sache damit erledigt gewesen, doch Anne hatte nach einem Geschirrhandtuch gegriffen und begonnen, den verschütteten Tee aufzuwischen. Dabei war bei Charles eine Sicherung durchgebrannt. Niemand sonst hätte es bemerkt, doch für Anne war die Veränderung umgehend sichtbar: Seine Pupillen wurden dunkel, seine Schultern nahmen demonstrativ eine entspannte Haltung an, wie bei einem Boxer, der sich für den Kampf im Ring vorbereitete, und sie hörte den feinen Pfeifton, mit dem er die
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