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Schauen sie sich mal diese Sauerei an

Schauen sie sich mal diese Sauerei an

Titel: Schauen sie sich mal diese Sauerei an
Autoren: Jörg Nießen
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120/Minute bedeutet, dass circa zwei Tropfen Blut pro Sekunde die Platzwunde am Hinterkopf unseres Patienten verlassen. Unser Patient heißt Jupp und sitzt gelassen auf einem Hocker am Tresen. Diese Sorte Kneipe liebe ich, leider findet man sie kaum noch. Halten Sie mich ruhig für nostalgisch, aber heute gibt es nur noch Clubs, Lounges oder Konzeptgastronomie. Diese modernen Läden haben Namen, die an Modellreihen japanischer Motorradhersteller erinnern, verkaufen Produktpaletten, die aus dem Chemielabor stammen, und schließen schneller, als der Vorrat an Bier- und Fruchtsaftmischungen sein Mindesthaltbarkeitsdatum erreichen kann. Im Zum Blasierten werden Sie schon schief angeguckt, wenn Sie nur ein Alster oder Radler bestellen. Hier wird Bier bestellt beziehungsweise so lange hingestellt, bis Sie als Gast aktiv die flüssige Nahrungsaufnahme verweigern. In dieser Kneipe finden Sie Menschen, die in Eckbänken und auf Barhockern lachen und lästern, weinen und jammern. In dieser Kneipe finden Sie Menschen, die wissen, dass fünf Bier (0,33 l) ein Schnitzel sind - das bestätigt Ihnen auf Nachfrage auch jede Ökotrophologin. In dieser Kneipe hängen Wimpel an der Wand, es gibt einen Sparverein, der Toilettenbesuch ist kostenlos, selbst gemachte Frikadellen kosten 1,10 Euro inklusive Senf, und der Geruch von kaltem Rauch wird als gemütlich empfunden. In dieser Kneipe treffen Sie Innenarchitekten, Maurer, Hartz-IV Empfänger, den Besitzer einer Schreinerei, die Labortante aus dem Krankenhaus gegenüber, einen Stammtisch von betagten Segelfreunden und einen psychotischen Handwerker, der Ihnen erklärt, wer Kennedy wirklich erschossen hat. Ein stets schlecht gelaunter Wirt mit abgebrochenem Germanistikstudium, der lieber Sommelier geworden wäre, rundet das sympathische Ensemble ab. Sie merken, ich war privat auch schon mal hier. In diesem Biotop für Biertrinker mit Niveau stillt auch Jupp gerne seinen Durst. Jupp fährt seit 22 Jahren hauptberuflich Taxi, leider verlief sein Tag heute nicht ganz unfallfrei. Nicht, was Sie gleich wieder denken, mit dem Taxi ist alles in Ordnung. Nach einer äußerst profitablen überregionalen Fahrgastbeförderung hatte Jupp beschlossen, bereits um 15:30 Uhr den Feierabend einzuläuten, um das gesamte Trinkgeld des heutigen Tages in seine Stammkneipe zu reinvestieren. Ein Fünfzigeuroschein wechselte mit den Worten »Sach Bescheid, wenn der fertig is, un jez zap ersmal zwei Bier, isch hab Brand« im Voraus den Besitzer. Jupp ist ein sogenannter »Wirkungstrinker«, d.h., er will was merken, wenn er säuft. Mit anderen Worten, der Verlust der Muttersprache ist hier erklärtes Ziel. Wie heißt es im Volksmund doch so schön: »Halb betrunken ist rausgeworfenes Geld.« Rechnen Sie mal aus, wie viel Bier Sie in Ihrer Stammkneipe für 50,00 Euro konsumieren dürfen. Nun heißt es, Angst und Ekel überwinden, und immer rein mit dem Zeug. Zwischendurch mal einen klaren Schnaps, nur für den Magen versteht sich; immerhin hatte Jupp gegen 16:55 Uhr bereits umgerechnet circa drei Schnitzel getrunken. Es muss 17:35 Uhr gewesen sein, als Jupp ein Saufspiel gegen sich selbst verlor und nun sieben Magenbitter auf ex trinken musste. Mit den Worten »Mein Vater wäre stolz auf misch, meine Mutter weniger« schüttete Jupp den letzten Schnaps in sich hinein. Da geschah das Unglück: Den Kopf noch im Nacken stürzte Jupp samt Barhocker ungebremst rückwärts zu Boden. Das Geräusch des Aufpralls konnte im Nachhinein niemand beschreiben, war auch eigentlich nicht nötig. Eine Kopfplatzwunde wie mit einer Axt geschlagen zierte als stummer, aber blutender Zeuge Jupps Hinterkopf. Kopfplatzwunden bluten ja erst mal wie frisch abgestochene Schweine, mit der Zeit lässt die »Tropfrate« dann nach. Auch wenn Kopfplatzwunden in der Regel keinen lebensbedrohlichen Zustand darstellen, so sind sie doch häufig so beeindruckend, dass das Umfeld des Opfers sich genötigt fühlt, den Rettungsdienst zu alarmieren. So auch in unserem Fall. Volker, unser Wirt, wollte Erste Hilfe leisten, er kniete sich neben Jupp und blickte auf eine circa zehn bis zwölf Zentimeter lange vertikal verlaufende klaffende haarige Wunde. Überfordert von diesen Dimensionen sagte er nur: »Das erinnert mich an die Geburt meiner ersten Tochter«, gab allen Gästen einen Schnaps aus und rief die Notrufnummer 112. Als mein Kollege Peter und ich die Kneipe betraten, war das Schlimmste anscheinend schon vorbei. Jupp saß wieder auf seinem Hocker
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