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Schattenwesen

Schattenwesen

Titel: Schattenwesen
Autoren: S Rauchhaus
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drückte es mir in die Hände.
    »Halt es gut fest!«
    »Cyriel …«, fing ich noch einmal an.
    »Nein!«, erwiderte er.
    Obwohl er doch gar nicht wusste, was ich sagen wollte. Diesmal wusste er es wirklich nicht, sonst hätte er nicht zu diesem letzten Mittel gegriffen, um mich zu bremsen. Er öffnete eine Schublade und holte einen kleinen Spiegel heraus.
    »Willst du so leben?«, fragte er.
    Ich blickte hinein – und hätte es besser nicht getan!
    »Und wie lange noch?«, fügte er hinzu.
    Der Spiegel fiel mir aus der Hand und zerbrach auf dem Steinboden. Das Gesicht, das mich so erschreckt hatte, war locker fünfzig Jahre alt.
    »Wie hast du mich eben noch küssen können?«, keuchte ich.
    »Ich bin vierhundert und immer noch älter als du«, sagte er ohne jedes Zeichen von Humor in der Stimme. »Aber ich werde nicht zulassen, dass du dein Leben wegwirfst. Komm!«
    Seine Hand strafte seine eiserne Miene Lügen, denn seine Finger streichelten meine, während er mich eilig durch die Tür nach draußen zog.
    »Warum habe ich dann noch nicht den Verstand verloren?«, überlegte ich laut, während ich neben Cyriel durch die Gänge stolperte.
    »Weil du an der Seite deines Schattens geschlafen hast«, erklärte Cyriel. »Zumindest glaube ich das. Du hast gespürt, dass er dich nicht für immer verlassen hat. Diejenigen, die oft an der Wand zum Schattenraum standen, kommen auch besser klar als die anderen. Am wenigsten betroffen ist das blinde Mädchen.«
    »Warum wohl?«, murmelte ich. »Weil sie ihren Schatten gar nicht vermisst hat?«
    Er nickte. »Wissenschaftler haben festgestellt, dass der menschliche Verstand den Schatten als einen Körperteil empfindet. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass dein Schatten viel mehr ist: deine Seele.«
    Schweigend lief ich weiter an seiner Hand und spürte seine Wärme. Wie konnte dieser Mann nicht menschlich sein? War er die Seele eines Menschen, den es schon lange nicht mehr gab? Nun, was auch immer. Ehrlich gesagt war mir das total egal. Hauptsache, er war bei mir!
    Vor dem Schattenraum erwartete uns eine Überraschung. Alle Schattenlosen standen bereit und warteten auf uns. Als die ersten unsere Namen murmelten, sprang Jessy auf mich zu.
    »Kira!«, schrie sie und umarmte mich.
    Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wie hatte ich diese Menschen nur warten lassen wollen? Und vor allem Jessy? Ich drückte sie ganz fest an mich.
    »Ich dachte, Ruben hätte euch auseinandergetrieben? Ich hab mir Sorgen gemacht, dass er euch zu Tode erschreckt hat.«
    »Das hat er auch«, lachte Jessy und in ihrer Stimme schwang trotz Lachen die Wahrheit mit. »Aber wir wussten ja, dass ihr kommt!«
    »Wussten?« Ich schluckte. »Zwischendurch war es ganz schön eng.«
    Aber ich wollte ihr die Erleichterung nicht durch Gruselgeschichten verderben. Dafür war später noch Zeit – in ein paar Tagen, in einer schöneren Umgebung, in der ich wahrscheinlich meine Erlebnisse selbst nicht mehr glauben konnte.
    Cyriel zog sein Messer und erklärte den Schattenlosen, was er vorhatte. Dann öffnete er die Tür und begann. Ich blieb draußen, lehnte mich an die kalte Wand und hörte die Jubelschreie. Als die Ersten heraustraten, hätte ich am liebsten ebenfalls laut geschrien: Sie hatten nicht nur ihren Schatten zurückbekommen – sie waren auch alle wieder jung! Ich erkannte sie kaum wieder: ganz normale Jugendliche, die mich glücklich anstrahlten und Jessy in den Gang folgten, in Richtung Ausgang. Jessy, die auch ohne Schatten so frisch wirkte wie am ersten Tag, kehrte allerdings jedes Mal wieder zurück. Ab und zu rubbelte sie ganz aufgeregt meinen Arm oder meine Hand, bevor sie wieder losging.
    Irgendwann kam Anna. Sie sah zwar anders aus, alsich sie kannte – ohne Schminke war sie ein ganz anderer Mensch –, aber auch ungewohnt glücklich. Sie blieb vor mir stehen.
    »Du kannst ihn haben!«, sagte sie trocken. Als ich ihren Blick prüfend erwiderte, breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. »War ein Witz! Ständig haben wir uns seinetwegen gestritten und jetzt will ihn keine von uns beiden mehr, oder?«
    Ich zuckte mit den Schultern und lächelte ausweichend – was Anna nicht entging.
    »Oder?«, wiederholte sie eindringlich und wurde wieder ernst. »Hey, der Typ hat sich da drin in einen Schatten verwandelt, um die anderen Schatten einfangen zu können. Kira … wenn du das noch nicht gesehen hast, solltest du mal reingehen. Das kuriert dich ganz schnell! So verrückt kannst
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