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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde
Autoren: Kelley Armstrong
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meine Freundinnen über ihre Tage redeten, kam ich mir wie eine Mutantin vor und betete, sie würden nicht herausfinden, dass ich sie immer noch nicht hatte. Tante Lauren sagte, mit mir sei alles in Ordnung. Und da sie Ärztin war, nahm ich an, dass sie es wissen musste. Zu schaffen machte es mir trotzdem. Sehr sogar.
    »Chloe!« Die Tür zitterte unter Annettes massiver Faust.
    »Ich sitze auf dem Klo!«, brüllte ich zurück. »Gibt’s hier vielleicht noch ein bisschen Privatsphäre?«
    Ich versuchte es mit einer einzelnen Spange am Hinterkopf, die die seitlichen Strähnen oben hielt. Gar nicht so übel. Als ich den Kopf drehte, um die Angelegenheit von der Seite zu betrachten, rutschte die Spange aus meinem feinen Haar.
    Ich hätte es nie abschneiden dürfen. Aber ich hatte meine langen glatten Kleinmädchenhaare gründlich satt gehabt. Stattdessen hatte ich mich für eine schulterlange, fedrig geschnittene Frisur entschieden. An dem Fotomodell hatte es fantastisch ausgesehen. An mir? Na ja.
    Ich beäugte die ungeöffnete Tube mit Tönungscreme auf der Ablage. Kari schwor, rote Strähnchen würden in meinem rötlich blonden Haar umwerfend aussehen. Ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, dass ich eher wie eine von diesen gestreiften Zuckerstangen aussehen würde. Andererseits, wenn ich damit älter wirken würde …
    »Ich gehe jetzt ans Telefon, Chloe«, brüllte Annette.
    Ich nahm die Tube mit Tönungscreme, stopfte sie in meinen Rucksack und riss die Tür auf.
     
    Ich rannte die Treppe nach unten – wie immer. Die Häuser, in denen wir wohnten, mochten wechseln, aber meine Gewohnheiten taten es nicht. An meinem ersten Kindergartentag hatte meine Mutter mich an der Hand genommen und sich, als wir oben am Treppenabsatz standen, meinen Sailor-Moon-Rucksack über den freien Arm gehängt.
    »Bist du so weit, Chloe?«, hatte sie gefragt. »Eins, zwei, drei!«
    Und wir waren losgestürzt, die Treppe hinunter bis ganz nach unten, keuchend und kichernd. Der Fußboden hatte unter unseren unsicheren Füßen geschwankt, und all meine Ängste, die ich wegen meines ersten Kindergartentags hatte, waren verflogen gewesen.
    Danach waren wir jeden Morgen zusammen die Treppe hinuntergerannt, während meiner gesamten Kindergartenzeit und in der ersten Hälfte des ersten Schuljahrs und danach … na ja, danach gab es dann niemanden mehr, mit dem ich die Treppe hätte hinunterrennen können.
    Am Fuß der Treppe zögerte ich und berührte den Anhänger unter meinem T-Shirt. Ich schüttelte die Erinnerungen ab, hängte mir den Rucksack über und verließ das Treppenhaus.
    Nachdem meine Mom gestorben war, waren wir innerhalb von Buffalo ziemlich oft umgezogen. Mein Dad kaufte Luxuswohnungen, wenn das Gebäude noch im letzten Bauabschnitt war, und verkaufte sie wieder, wenn die Arbeiten abgeschlossen waren. Den größten Teil seiner Zeit war er dienstlich unterwegs, und damit war es nicht sonderlich wichtig, irgendwo Wurzeln zu schlagen – jedenfalls nicht für ihn.
    An diesem Morgen war es keine sonderlich brillante Idee gewesen, die Treppe zu nehmen. Denn angesichts meiner Spanisch-Halbjahresprüfung flatterte mein Magen sowieso schon vor Nervosität. Die letzte Klassenarbeit hatte ich vermasselt und letztlich nur mit Ach und Krach bestanden, weil ich das Wochenende, an dem ich eigentlich hätte lernen sollen, bei Beth verbracht hatte. Spanisch war nie mein bestes Fach gewesen, aber wenn ich mich nicht wenigstens auf ein C verbesserte, würde Dad irgendwann doch noch aufmerksam werden und sich wahrscheinlich fragen, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, mich eine Schule mit einem Kunstzweig besuchen zu lassen.
    Draußen wartete Milos mit seinem Taxi. Er fuhr mich jetzt seit zwei Jahren, zwei Umzügen und drei Schulen. Als ich einstieg, verstellte er die Sonnenblende auf meiner Seite. Die Morgensonne stach mir trotzdem noch in den Augen, aber das erwähnte ich nicht.
    Mein Magen entspannte sich etwas, als ich mit den Fingern über den vertrauten Riss in der Armlehne strich und den künstlichen Kieferngeruch des Duftbaums einatmete, der sich im Windzug der Lüftung drehte.
    »Ich hab gestern Abend einen Film gesehen«, sagte Milos, während er das Taxi in einer Diagonale über drei Spuren schob. »Die Sorte, die du magst.«
    »Ein Thriller?«
    »Nein.« Er runzelte die Stirn, und seine Lippen bewegten sich, als probierte er mögliche Bezeichnungen aus. »Action-Abenteuer. Du weißt schon, jede Menge Waffen,
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