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Schattennaechte

Schattennaechte

Titel: Schattennaechte
Autoren: Tami Hoag
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ihr.
    »Es tut mir leid«, sagte sie keuchend. Sie schwitzte und gleichzeitig fror sie. »Ich habe nicht aufgepasst. Es tut mir furchtbar leid. Haben Sie vielleicht eine Toilette?«
    »Hinten beim Kundenservice.«
    Bevor er noch etwas sagen konnte, nahm sie schnell ihre Handtasche aus dem Einkaufswagen und hastete an ihm vorbei. Auf der Toilette ging sie in eine Kabine und setzte sich zitternd auf den geschlossenen Klodeckel, die Tasche auf dem Schoß, Tränen in den Augen, und versuchte, ruhig zu atmen. Das Herz schlug ihr bis in den Hals. Ihr war schwindlig. Sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.
    Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
    Hatte sie ihn tatsächlich gesehen? Hatte sie es sich nur eingebildet? War er im Laden? War sie einfach nur den falschen Gang hinuntergelaufen?
    Was hätte sie getan, wenn der Mann, dessen Einkaufswagen sie gerammt hatte, tatsächlich der Entführer ihrer Tochter – oder der, den sie dafür hielt – gewesen wäre? Hätte sie geschrien? Hätte sie ihn geschlagen? Wären die Cops gekommen und hätten sie festgenommen?
    Sie saß da, hörte die leise Musik und wusste keine Antwort auf ihre Fragen.
    Die Tür zum Toilettenraum wurde geöffnet, und eine Frauenstimme rief: »Ma’am? Der Manager schickt mich. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Ja, danke, mir geht’s gut.«
    Sie wartete, bis die Frau wieder gegangen war, dann trat sie aus der Toilette und verließ den Supermarkt. Mit zitternden Händen kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht zu ihrem Auto zu rennen.
    Sie kam sich vor wie eine Idiotin. Das Abendessen war vergessen. Sie ließ den Motor an, saß da und wartete darauf, dass die Klimaanlage ihre Wangen kühlte, die immer noch vor Scham glühten.
    Um sie herum ging das Leben weiter. Leute liefen vorbei und betraten den Supermarkt oder verließen ihn. Sie sahen nicht zu ihr herüber. Sie wussten nicht, was sie gerade getan hatte. Sie wussten nicht, was sie vor vier Jahren durchgemacht hatte und die ganze Zeit seither – Tag für Tag. Es war ihnen egal. Ihre Lebenswege hatten sich nicht gekreuzt.
    Reiß dich zusammen, Lauren.
    Für gewöhnlich gelang ihr das recht gut. Ihre Mitmenschen kämen normalerweise nicht auf die Idee, dass sie die meiste Zeit am Rande des Wahnsinns lebte. Genauso wie ihre Mitmenschen normalerweise nicht auf die Idee kämen, dass ihr Nachbar finstere Gedanken hegte, sich Entführung, Folter, Mord vorstellte …
    Er war ein so ruhiger Mann …
    Wie gebannt sah sie den Einwohnern Oak Knolls dabei zu, wie sie ihrer alltäglichen Arbeit nachgingen, sie kamen ihr vor wie Ameisen in einem Ameisenhügel. Dann zwang sie sich dazu zu überlegen, was sie zum Abendessen machen sollte.
    In diesen Supermarkt konnte sie unmöglich zurück, aber da war noch ein anderer ein paar Straßen weiter. Aber vielleicht wäre es besser, wenn sie sich einfach etwas bringen ließe. Sich zurückziehen, zur Ruhe kommen, ein, zwei Drinks, den Nachmittag vergessen. Vielleicht wäre sie morgen imstande, sich unter Menschen zu begeben, ohne jemanden mit dem Einkaufswagen zu attackieren.
    Sie atmete tief durch, um den Kopf freizubekommen. Während sie sich zu entspannen versuchte, fuhr langsam ein Kastenwagen an ihr vorbei. Ein ganz normaler brauner Kastenwagen. Der Fahrer drehte den Kopf und sah ihr direkt ins Gesicht, und Laurens Herz stockte, als sie in die dunklen Augen von Roland Ballencoa blickte.
    Der Mann, der ihr ihre Tochter genommen hatte.

2
    Der Kastenwagen fuhr weiter. Der Fahrer hielt nicht an, wurde nicht langsamer, nicht schneller. Er schien sie nicht erkannt zu haben.
    Das Blut rauschte in Laurens Ohren. Sie fühlte sich, als wäre sie plötzlich unter Wasser getaucht worden. Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht atmen. Der Druck drohte, ihr den Brustkorb zu zerquetschen.
    Sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Augen trauen konnte. War er es wirklich gewesen? Oder hatte ihr Gedächtnis ihr wieder einmal einen Streich gespielt und Roland Ballencoas Gesicht über das eines anderen Mannes geschoben?
    Der Kastenwagen hatte am Ende des Parkplatzes angehalten, um auf die Straße einzubiegen. Sie konnte den Fahrer von hier aus nicht erkennen.
    Was, wenn er es war? Was, wenn er wie ein ganz normaler Bürger mit ein paar Flaschen Bier und einer Packung Tiefkühllasagne auf dem Weg nach Hause war?
    Als der Kastenwagen sich in den Verkehr einfädelte, legte Lauren den Rückwärtsgang ein und fuhr los,
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