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Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Titel: Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
Autoren: Christine Liew
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Muscheln und Schnecken sieht Reiko keine Zukunft mehr. So kam ihr die Geschäftsidee der Bewirtung von zahlenden Gästen. Immer weniger Frauen sind zudem bereit, das harte Leben einer Taucherin zu führen. Mit dem Zusatzgeschäft versucht Reiko nun, den Fischerfrauen in der Küstenregion eine Alternative zum Leben in der Stadt zu bieten. Es scheint ihr zu gelingen, denn noch gibt es keine akuten Nachwuchsprobleme.
    Gerne betrachte ich das Gesicht der alten Reiko. Es hat eine besondere Schönheit, das Meer und die Sonne haben sie gezeichnet. Ihre Hände sind rissig von der harten Arbeit im Wasser, Falten durchziehen das dunkle Gesicht. Der blütenweiße zarte Baumwollstoff ihrer Berufskleidung will nicht so recht zu diesem Körper passen, der jahrzehntelang festes Anpacken gewöhnt war. Eine Haube aus Weiß umschließt das Gesicht, die Augen blitzen mir unter tief hängenden Lidern entgegen, Goldkronen setzen ihrem Lächeln kleine Glanzlichter auf. Selbstbewusst und ruhig sitzt das in die Jahre gekommene Perlenmädchen vor mir. Und beginnt, von der Vergangenheit zu sprechen. Mit den heranrollenden Erinnerungen fällt das Alter wie eine Hülle von ihr ab. Sie drückt ihren Rücken durch, ihre Hände gleiten mit ausgreifenden Bewegungen durch die Luft. „Mutter ermahnte uns ständig, dass nur mutige Mädchen einen anständigen Ehemann bekommen würden, und so sind wir mit 15 Jahren das erste Mal zum Tauchen mitgegangen.“ Anfangs kostete es schon Überwindung, nur mit Taucherbrille und einem Holzbottich erst vier Meter und später sogar bis auf zehn Meter hinunterzutauchen und täglich Dutzende Male den Meeresgrund nach Muscheln und Seeigeln abzusuchen „Fast alle haben wir damals hier an der Küste als Ama gearbeitet. Wer im vertrauten Dorf bleiben wollte, musste also tauchen gehen“, erzählt Reiko weiter. Das Meer gab nicht nur, es nahm sich auch regelmäßig ein Opfer. Vielen Frauen wurde ein besonders üppiger Fund zum Verhängnis. Besonders die großen Abalonen brachten ordentlich Geld, da wollte man ungern einige Muscheln zurücklassen und sammelte bisweilen allzu lang. Unterkühlung und tückische Strömungen forderten ebenfalls ihren Tribut. „Zu Beginn des Tauchens sprachen wir Gebete und trugen auf unserer Kleidung Symbole zur Abwehr des Bösen.“ Das Seman, eine Art Davidstern, besteht aus einer Linie, die wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Es verspricht der Taucherin eine sichere Heimkehr. Ein weiteres Symbol erinnert an ein Gitter und soll das Böse bei dem Versuch, von der Taucherin Besitz zu ergreifen, verwirren. Früher warf man noch eine Handvoll Reis zur Beruhigung der Seegötter ins Wasser, bevor das Tauchen begann. Doch heute verlassen Reiko und ihre Frauen sich lieber auf die Wettervorhersage der Fischereikooperative und nehmen es mit den Göttern nicht mehr so genau. Nur an hohen Feiertagen und auch an Tagen mit Beerdigung oder Hochzeit wird nicht getaucht, das Schicksal wollen die Frauen nicht unnötig herausfordern.
    „Und die anderen Frauen, die ihre Ängste nicht überwinden konnten?“, frage ich.
    „Die mussten sich ihr Glück in der Stadt suchen“, antwortet Reiko ein wenig herablassend und schenkt Tee aus trüb gewordenen Plastikflaschen nach. Männer mit weichen Händen und einem Bürojob, die kamen für Mädchen wie Reiko ganz klar nicht in Frage. Gute Männer waren vom Schlag ihrer Väter und Vorväter: einfache, aber hart arbeitende Fischer. Blieb man als Ehefrau in den kleinen Küstenorten Zentraljapans, war das Leben trotz idealem Ehemann kein Zuckerschlecken. Neben dem Tauchen und Fischen gab es kaum Verdienstmöglichkeiten. Frauen mussten hier schon immer zum Familieneinkommen beitragen, oftmals waren sie die Haupternährer. Das hat sich bis heute kaum geändert. Mit einem Gewinn von durchschnittlich 150 Euro pro Tag lohnt sich das Tauchen nach Seeigeln, Seegurken und anderen Meeresfrüchten in der strukturschwachen Region heute immer noch.
    In Reikos Jugend gingen die jungen Ama allesamt für einige Jahre auf Wanderschaft. Vor dem Weltkrieg war auch das von Japan okkupierte Korea ein beliebtes Ziel der Taucherinnen. Nach drei bis vier Jahren Arbeit in der Fremde hatten die jungen Frauen genug verdient, um daheim zu heiraten und einen Haushalt zu gründen. Ganz im Gegenteil zu dem verbreiteten Bild des japanischen Mannes als Familienoberhaupt mit absolutistischen Zügen überlassen die Männer der Küstenregionen ihren Frauen seit Generationen die
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