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Schattenkrieg

Schattenkrieg

Titel: Schattenkrieg
Autoren: Andreas Saumweber
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entlassen, woher sollte er jetzt noch Fieber bekommen?«
    »Und seit wann frisierst du seine Kurve? Wann hast du ihn das letzte Mal gemessen?«
    Ziemlich verunsichert, wollte Keelin schon aufstehen und ein Thermometer holen, doch Elaine hielt sie zurück.
    »Ich gehe schon. Siehst aus, als ob du noch einen oder zwei Schluck Kaffee vertragen könntest!« Damit verschwand sie aus dem Stützpunkt.
    Keelin starrte auf die Fieberkurve des Patienten. Wann hatte sie Mr. Burke das letzte Mal gemessen? Es war so leicht, sich mit den erschummelten Werten selbst zu betrügen … Müde stützte sie ihren Kopf auf die Hand und blätterte in der Akte, doch ihre Gedanken waren längst woanders.
    Cannich. Das Fußballspiel …
     
    Das Spiel war ein voller Erfolg gewesen, Inverness’ zweite Frauenmannschaft hatte 4 zu 1 gegen das Team aus Cannich gewonnen. Sie war Libero, der letzte Spieler vor dem Torwart, eine Position, die ihr niemand so recht zutrauen wollte, aber an jenem Samstag hatte sie ein hervorragendes Spiel geleistet. Das Gegentor war nun wirklich nicht ihre Schuld gewesen.
    Doch als ihr Team abends mit dem Bus zurück nach Inverness gefahren war, hatte sie selbst in dem Dorf übernachtet und war am nächsten Morgen hoch ins Glen Affric
1
gelaufen, wo sie einmal um den wunderschönen Loch Affric
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gewandert war. Erschöpft war sie spät in der Nacht
nach Hause gekommen und war, ohne noch etwas zu essen oder zu trinken, sofort zu Bett gegangen. Sie hatte erwartet, traumlos und lang zu schlafen, bis sie mittags ihr Wecker zur Spätschicht zurückholen würde.
    Stattdessen hatte sie Mühe gehabt, überhaupt einzuschlafen. Ihre Gedanken waren um die Geschehnisse des Tages gekreist. Vor allem die Erinnerungen an das Glen hatten ihr keine Ruhe gelassen, was Keelin überraschte. Normalerweise dachte sie über derartige Dinge nicht nach. Sie hatte eigentlich genügend andere Probleme, die sie nachts wach hielten …
    Als sie dann gegen Morgen doch noch eingeschlafen war, träumte sie. Es war einer dieser Träume, bei denen man schon im ersten Moment wusste, dass es nicht wirklich war. Und dennoch – oder gerade deshalb?– war er ihr realistischer erschienen als alles, was sie je zuvor geträumt hatte.
    Sie lief wie durch dichten Nebel, ohne Gefühl für Zeit und Raum. Es kam ihr vor, als wäre sie Stunden, ja Tage unterwegs, in einer eintönigen, endlosen Landschaft. Selbst der Untergrund, auf dem sie lief, war so monoton und substanzlos, dass sie sich nicht einmal sicher sein konnte, ob sich überhaupt etwas unter ihren Füßen befand. Erst nach einer scheinbaren Ewigkeit ließen sich um sie herum die Umrisse einer Landschaft erkennen.
    Sie folgte einem breiten Pfad, neben dem sich ein vom Torfmoor bierbraun gefärbter Bach in seinem breiten Kiesbett entlangschlängelte. Um Pfad und Fluss waren zahllose kleine Felder angelegt, auf denen Roggen und Gerste angebaut wurden. Das Getreide wartete in goldgelben Ähren auf seine Ernte oder war bereits zu dicken Garben zum Trocknen zusammengebunden. Schwärme rotblauer Buchfinken balgten sich um die Körner und verschwanden laut zeternd in den dichten Hecken zwischen den Feldern, wenn Keelin ihnen zu nahe kam. Auf einer entfernten Vogelscheuche saß eine Krähe und beobachtete sie. Der blaue Himmel über ihr war mit zahllosen Schäfchenwolken betupft. Die Luft war angefüllt mit dem Geruch nach Stroh und Heidekraut.
    In Keelin machte sich das Gefühl breit, den Ort zu kennen, doch je mehr sie nach der Erinnerung griff, desto mehr schien sie ihr auszuweichen. Mit einem Schulterzucken gab sie es schließlich auf, danach zu suchen.
    Schließlich erreichte sie einen dunkelbraunen See, der die Talsohle ausfüllte. Die Hänge waren von dunkelgrünem Kiefernwald bedeckt, aus dem sich kahlgraue Bergkuppen erhoben. Auf einer Landzunge vor ihr war eine Handvoll kleiner Gebäude errichtet, runde Gebilde mit Wänden aus Weidengeflecht und Lehm und Dächern aus Stroh, aus denen langsam dünner Rauch quoll. Nur die größten von ihnen waren rechteckig und zumindest zum Teil aus Steinen errichtet. Keelin konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein solches Dorf gesehen zu haben.
    Etwas verspätet traten auch die Geräusche in ihr Bewusstsein: das Plätschern des Baches, der aus dem See gespeist wurde, das regelmäßige Schlagen einer Holzfälleraxt, der Schrei eines Raubvogels, der hoch über ihr seine Kreise zog. Keelin glaubte sogar, Kinderstimmen aus der Siedlung zu hören.
    Sie folgte weiter
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