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Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Titel: Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Autoren: Anne Holt
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aufgestanden. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Fresse halten!«, brüllte er. »Jetzt haltet ihr allesamt die Fresse!«
    Es wurde sofort still, als hätte jemand den Ton abgedreht.
    Inger Johanne drehte den Kopf. Auf der Arbeitsfläche neben ihr lag die Zeitung des Tages. Ihr Blick fiel auf das Bild auf der ersten Seite. Noch eine Beerdigung. Eine weitere in der endlosen Reihe. Noch ein Kind. Noch ein Vater, der einen Sarg trug, den kein Vater hätte tragen dürfen.
    Sie erkannte ihn.
    Der Vater, der seine Tochter zu Grabe trug, war Kalle Hovet, der Polizeijurist, der ihr zu Hilfe gekommen war, als Sander tot war und sie nicht gewusst hatte, was sie jetzt machen sollte.
    Inger Johanne fing an zu weinen. Sie stellte das Glas auf die Arbeitsfläche, holte Atem und brachte mühsam heraus: »Warum sollte ich Jons Unschuld beweisen?«
    Ihre Stimme war kaum zu hören.
    »Ich wollte ...«
    Ellen keuchte auf, als Inger Johanne die Hand wie zum Schlag hob, obwohl sie drei Meter entfernt stand und unmöglich jemanden treffen konnte.
    »Ich frage nicht dich«, fauchte Inger Johanne. »Ich frage Helga.«
    Die alte Dame war nicht mehr blass. Sie war aschgrau.
    »Wenn die Polizei zu einem falschen Schluss gekommen wäre«, sagte sie heiser, »dann wollte ich, dass Sie es besser wissen. Ich wollte doch, dass die Ermittlungen eingestellt würden. Nichts konnte Sander wieder zum Leben erwecken. Damit Jon damit leben könnte, dass seine Frau ... dass sein Kind ... damit leben, dass er sie in all den Jahren beschützt hat, die Hand gehalten hat über eine, die ... Ich hatte gehofft, der Fall würde eingestellt werden. Wenn nicht, sollte es jemand wissen. Dass es nicht Jon gewesen war. Sondern Ellen.«
    Sie schaute zum ersten Mal zu Boden. Zum allerersten Mal sah Inger Johanne Helga Mohr mit gesenktem Kopf.
    »Sie haben versucht, mich als eine Art ... Rückversicherung anzuheuern? Warum haben Sie mir nicht gesagt, was Sie wussten? Oder ahnten? Oder annahmen? Weil die verdammte ... Fassade wichtiger war als alles andere? Weil Kindesmisshandlung in den besten Familien nicht vorkommt, schon gar nicht bei Familie Mohr?«
    »Ich war das, Mutter«, schluchzte Jon. »Ich habe nicht aufgepasst, als Sander ...«
    »Nein. Ich habe euch gesehen, Jon. Ich wollte mein Buch holen, den Roman, den ich vergessen hatte, ich kam über die Außentreppe, und ich sah, dass Sander an der Decke malen wollte. Ich sah Ellen. Ich sah, wie Sander von der Trittleiter gerissen wurde, sah die Taschenlampe, die Schläge, die tödlichen Schläge, ich sah ...«
    Sie schlug die Hand vor die Augen und schluchzte.
    »... ich habe dich gesehen. Wie du angestürzt kamst.«
    Stille.
    »Ich wollte dich nur beschützen, mein Junge. Wollte die Familie beschützen. Die Tragödie brauchte doch nicht noch größer zu werden, als sie ohnehin schon war. Schließlich bin ich doch für dich verantwortlich!«
    Jon weinte nicht mehr. Er rang ungläubig um Atem. Ellen lehnte sich über den Tisch und griff nach dem Glas. Sie wirkte halb bewusstlos, als sie es an den Mund hob und trank.
    »Warum?«, fragte Inger Johanne. Sie wollte nach Hause, jetzt, sofort, aber das musste sie noch wissen: »Wie konntest du nur dein eigenes Kind misshandeln? «
    Ellen schaute auf. Erst sah sie Inger Johanne an, dann die Decke über der Tür, wie auf der Suche nach göttlichem Beistand. Ihre Schultern, ohnehin so schmal, verschwanden fast, als sie in sich zusammenkroch, als sie sich über das leere Schnapsglas krümmte und flüsterte: »Weil es hilft.«
    »Was?«, fragte Henrik.
    »Es hat angefangen, weil sonst nichts geholfen hat.«
    Wieder diese Stille, unerträgliche Stille.
    »Er war so unmöglich«, flüsterte Ellen kaum hörbar. »Das Einzige, was ihn dazu bringen konnte ... aufzuhören. Er war immer so laut, so ... einfach nur ein Klaps, dann hörte er auf. Ein Klaps. Und noch einer, und es half. Ein Klaps.«
    Sie hielt den Mund so dicht an das leere Glas, dass ihre Stimme ein wenig verzerrt wurde.
    »Ich hatte alles so schön gemacht. Ich hatte mich auf das Fest gefreut. Er saß oben auf der Leiter und hätte mit seinen Buntstiften alles ruiniert. Er hat alles ruiniert, so oft. Nur ein Klaps, das hat geholfen.«
    »Weil es geholfen hat? Weil es geholfen hat? «
    Inger Johanne machte auf dem Absatz kehrt. Sie riss die Tür auf. In der Diele, der viel zu großen Diele, schnappte sie sich ihre Regenjacke und schob die Füße in die Stiefel, ehe sie sich mit der Haustür
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