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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel
Autoren: Marko Hautala
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Augen.
    Neben einem der Hügel stand jemand.
    Erst jetzt begriff Ina, dass sie immer noch das Messer in der Hand hielt. Wie idiotisch. Sie presste es flach an den Oberschenkel, vage besorgt, dass jemand es sehen könnte. Auch wenn sie rundherum nur das Rauschen des Waldes und des Meeres wahrnahm, wurde sie vermutlich beobachtet. So waren die Inselbewohner.
    Ina ging näher heran und erkannte Markus’ Gestalt. Die krumme Haltung und die über Taillenhöhe erhobenen Hände, wie bei einem Menschen, der einen Schlag erwartet. Sie erkannte auch den dunklen Anzug und die Krawatte, die sie selbst Markus vor einigen Stunden angezogen hatte, wegen der Gäste. Der verzweifelte Versuch, die Illusion zu schaffen, Markus sei nicht so verloren, wie er es war.
    »Die Gäste kommen bald«, sagte Ina. »Gehen wir ins Haus.«
    Markus reagierte erst, als Ina ihn an der Hand fasste.
    Sie lachte auf. Der Anzug war zerknittert, aber davon abgesehen wirkte Markus überraschend feierlich.
    »Die werden sich wundern«, sagte sie. »Sie rechnen damit, ein dahinvegetierendes Wesen im Schlafanzug zu sehen.«
    Markus’ Lippen bewegten sich ein wenig. Ina war froh darüber. Sie wusste, dass Markus irgendwo hinter seinem starren Gesicht mit ihr lachte.
    Als sie den Waldrand erreicht hatten, hörte Ina hinter sich ein dumpfes Poltern. Wie von einem rollenden Stein. Sie blieb stehen und drückte Markus’ Hand fester.
    Die Steinhaufen standen stumm da. Wie Tiere, die nur darauf warteten, dass man sie in Ruhe tun ließ, was immer sie taten. Zwischen ihnen sah Ina ein Boot, vielleicht fünfzig Meter vom Ufer. Es schien stillzustehen, trotz der hohen Wellen. Zwei Menschen waren an Bord. Sie starrten entweder Ina oder den Horizont an, es war unmöglich, ihre Blickrichtung zu bestimmen, da Ina nur die dunklen Umrisse sah. Wenn sie blinzelte, schien das Boot jedes Mal ein Stück weiterzuruckeln.
    Ina hob grüßend die Hand, doch die Geste wurde nicht erwidert. Die Leute blickten in die andere Richtung, schloss sie daraus.
    »Gehen wir«, sagte sie und zog Markus mit sich.
    Auf dem Weg zum Haus spannte sie unwillkürlich die Nackenmuskeln, überzeugt davon, dass sie vom Boot aus beobachtet wurden.

D as Trockenfleisch ging bald zur Neige, wie alles andere Essbare auf der kleinen Insel, auf der man von einem Ende zum anderen laufen konnte, ohne zu ermüden. Auf einem aus Wrackteilen gezimmerten wackligen Floß wagten sie sich zum Fischen hinaus, fingen aber nur ein paar Barsche. Nach einigen Tagen nicht einmal mehr die. Ganz in der Nähe lag eine zweite kleine Insel, auf der verkrüppelte Ebereschen und Büsche wuchsen. An ihren Zweigen mochten noch überreife Beeren hängen, doch die Brandung war viel zu stark, als dass die mit Brettern rudernden Seeleute gewagt hätten, ihr zu trotzen. Man beschloss zu warten, bis sich der Sturm legte.
    »Das Schicksal hat uns eine Generation zu früh an dieses Gestade geworfen«, sagte einer der Männer. »Diejenigen, die am heutigen Tag ihren ersten Schrei ausstoßen, können in reifen Jahren von dieser Insel zu jener und wieder zurück waten, ohne nasse Achseln zu bekommen.«
    Das Wasser im Bottnischen Meerbusen schwand, das wussten alle. Die von Gott gesandte Sintflut hatte die See erzürnt, doch nun zog sie sich langsam zurück, die Inseln hoben sich aus dem Meer, wie ein jeder im Lauf seines Lebens beobachten konnte. Wenn sie zwei Generationen später Schiffbruch erlitten hätten, wäre die Insel größer und mit Bäumen bewachsen, die vor dem Wind schützten,es gäbe Vogelnester und kleine Tiere, deren Fleisch man in Ermangelung von etwas Besserem verzehren könnte.
    Es war noch keine Woche vorbei, da gruben die Männer schon in der Erde und suchten nach Würmern und anderen Widerwärtigkeiten der Schöpfung. Solange die Vorräte reichten, hatte der Apotheker dafür gesorgt, dass Jakob seinen Anteil bekam, wenn auch einen kleineren als die anderen Männer. Diese Entscheidung hatte er immer wieder begründen müssen: Die Krone wolle ihren Gefangenen lebend; aus Jakobs jämmerlichen Knochen werde man Kenntnisse herauspressen, die sich als segensreich erweisen würden. Es überraschte Jakob, dass man dem Apotheker noch nicht den Hals aufgeschlitzt hatte, denn selbst mit königlichen Siegeln konnte man weder die Wut eines hungrigen Kretins beschwichtigen noch den Vögeln befehlen, sich zur Nahrung für die Ausgehungerten fangen zu lassen. Als diejenigen, die als Erste den Verstand verloren hatten, bereits an der zum
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