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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Autoren: Antje Wagner
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wo die Bäume am dichtesten zusammenrückten und es kalt wurde, waren die vergessenen Gräber.
    Dort blieb ich stehen. Vor einem davon. Eines Nachmittags. Es war von Disteln und Brennnesseln überwuchert. Ich wischte die Nesseln zur Seite, wischte über den bemoosten Stein, fuhr mit dem Finger die zerschlissenen Buchstaben ab.
    Aus dem Leben gerissen von fremder Hand
    hat der Weiher sie geborgen
    Mein Kopf sank gegen den Stein; ich schloss die Augen. Hier war es, das Grab des ermordeten Mädchens, von dem die Erwachsenen behaupteten, es habe nie existiert. Das Mädchen, dem etwas Wichtiges fehlte, als man es aus dem Weiher gezogen hatte. Ich atmete und streichelte den Stein, während ich hinter geschlossenen Lidern sah, wie Ina und Carsten Möbel aus dem Anker in den Hof trugen und übereinander warfen. Ich sah, wie sie durch mein Zimmer gingen und alles in Beschlag nahmen, und riss die Brennnesseln aus, eine nach der anderen. Und dann …
    … spürte ich etwas. Spürte eine Bewegung. Ich öffnete die Augen, sah mich um, aber da war niemand. Ich war ganz allein in diesem Teil des Friedhofs. Ich sah auf die freigezupfte Erde und nahm eine Unebenheit wahr, einen … Riss? Ganz fein war er, verbreiterte sich aber, als ich mit der Hand darüberwischte, wurde zu einem Spalt, handkantenbreit, aus dem etwas Weißes hervorblitzte. Ich zupfte daran.
    Stoff. Weißer Stoff. Feine Spitze. Ein Band aus Seide.
    Ich stand auf. Ich ging Schritt um Schritt rückwärts.
    „Willst du schon gehen?“, fragte eine helle Stimme, die ich kannte, ich wusste nicht, woher, vielleicht aus einem Traum. Ich drehte mich um, aber da war niemand. „Wollen wir nicht Freunde sein?“, fragte die Stimme, meine eigene.
    Und dann war es ganz deutlich, eine Bewegung auf dem Grab, und die Disteln, die die Unterseite des Grabsteins verdeckten, beugten sich, knickten um. Und während ich rückwärts davonging, las ich:
    Polly
    Die Toten sind nicht abwesend, nur unsichtbar.

Dank
    Mein besonderer Dank geht an Manuela Lachmann, die das Buch kritisch begleitet und es mit schönen Ideen bereichert hat.
    Ein warmer Dank auch an das Querverlags-Team: an Jim Baker, Ilona Bubeck und an Corinna Waffender, meine Lektorin. Wie gut, dass es Euch gibt!

Über die Autorin

    Antje Wagner, 1974 in Lutherstadt Wittenberg geboren, schreibt Erzählungen und Romane für Erwachsene und Jugendliche. Sie lebt in Potsdam und arbeitet auch als Sprecherin und als Übersetzerin aus dem Englischen.
    Ihr Thriller Unland (Bloomsbury, 2009) wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem ver.di Literaturpreis. Im Querverlag erschien von ihr zuletzt der Erzählband Die Gärten bist du. Morden, um zu leben ist ihr erster Kriminalroman.
    Foto: Lutz Edelhoff

Schade, dass der Krimi zu Ende ist?
    Dann lesen Sie am besten gleich weiter: Ein Auszug aus Zum Sterben nach Kairo von Andrea Karimé.
    Als Kairos Blut auf die Straße floss,
    warf Hala einen Blick in fremde Betten,
    sah Mina eine tote Katze vor der Haustür,
    warf Philemon einen Blick in den leeren Morgen,
    fiel Anastasia ein Stein auf das Herz.
    Ich heiße Kairo und ich sage nichts mehr. Ich lausche lieber. Dem Wind zum Beispiel, wie er Dinge durch die Gegend trägt und sich im Staub verfängt. Der wilde Wind. Ich kenne euch alle. Und ich streife durch die vertrocknete Stadt oder fahre mit der Metro. Das kann ich jetzt endlich tun, früher hat man mich abgehalten. Vor allem meine Schwester. Nur einkaufen gehen, das ist mir erlaubt. Vor allem Brot. Das Brot, das mir meine Ehre raubte.
    In der Metro kann ich einfach nur zuhören und beobachten. Wie die Eingänge Gesichter einsaugen und auswerfen wie ein Automat Münzen. Kein Gesicht sieht mich. Die Metrostation ist nicht in meinem Viertel. Schon lange ist eine in unserem Stadtteil geplant, eine, die uns mit dem Midan Tahrir verbinden soll, dem kranken Herzen Kairos, doch sie ist nicht gebaut worden. Immer noch muss man viele Schritte tun, um die Station zu erreichen. Ach, ich bin viel gelaufen in meinem Leben, unzählige schwere Schritte, vielleicht so viele wie Sterne am Himmel sind? Jeder Schritt ist nun ein Stern. Ja! Und wenn ich durch meine Straße gehe, ziehe ich eine Spur, ich leuchte, nur bin ich ein roter Engel. Und ich suche.
    Seit ich ein Engel bin, besuche ich, wen ich will. Heute ist es die nette Lehrerin, die mir an der Straße des 26. Juli immer begegnet. Sie sagt jedes Mal: „Warum gehst du nicht mehr in die Schule?“
    Die Lehrerin hat keine Ahnung vom Leben. Meine
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