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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Autoren: Antje Wagner
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hirnrissige Idee, einen Kiosk in der Wildnis aufzubauen, wo keiner ein Auge drauf hat!“, kreischte Ina. „Nicht mal versichert ist das Ganze!“
    „Das weiß ich selber!“, brüllte Carsten. „Das können nur diese Scheißnazis gewesen sein, die letzte Woche da waren! Verdammte Mistbande. Schlagen alles zu Klump und zünden es an!“
    Ich lag in der Wanne, fühlte mich irgendwie zerschlagen. Zerschlagen, aber auch gut. So als hätte ich einen Stall ausgemistet. Oder ein großes Stück Land umgegraben.
    Ich schloss die Augen. Und sah wieder Mondlicht, zuckend, grell und zerhackt wie das Stroboskoplicht, das Carsten unten im Saal anmachte, wenn Disko war, und in diesem Licht sah ich eine Kaskade von Bewegungen, hörte das Knirschen und Krachen von weißem Holz und Glas, und dann, am Ende, ein hohes Kreischen, wie von einem Tier. Oder einem Menschen. Einem Mädchen, das sehr, sehr wütend war. Ich machte die Augen wieder auf und lächelte.

VI Gräber - Vierzehn Jahre später
    Zelle Nummer 13.
    Zwei mal vier Meter. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein schmaler Metallschrank, ein Standregal. Der Boden ist gefliest. Die Fliesen haben dieselbe Farbe wie die Haut starker Raucher. Das Fenster zeigt zum Hof. Der Blick ist durch ein Metallgitter geneuntelt.
    Es ist neunzehn Uhr. Bis einundzwanzig Uhr haben wir „Freizeit“. Freizeit heißt, dass wir uns frei auf dem Gang bewegen, dass wir uns besuchen dürfen, im Gruppenraum fernsehen, in der Küche kochen. Wir bekommen hier sämtliche Mahlzeiten vorgesetzt. Trotzdem wird in der Freizeit gekocht. Einfach so. Wegen des Zusammenseins. Am Anfang hat Ilka mich ein paar Mal zum Kochen eingeladen, aber ich bin nie hingegangen. Jetzt fragt sie nicht mehr, versucht aber immer noch, sich mit mir anzufreunden. Nur – ich will nicht.
    Ich sitze am Fenster und warte. Frühsommer. Jemand hat draußen im Hof gemäht. Jetzt sieht das Gras gelb aus, dürr. Der spülwasserfarbene Himmel drückt Wärme heraus. Ein Detail, das mich fast froh macht. Was auch geschieht, es wird immer ein Wetter geben, heiß oder kalt, dunkel oder hell; dem Wetter ist es gleichgültig, ob wir existieren oder nicht, es sieht uns nicht zu, es tadelt oder lobt uns nicht. Es ist einfach da und wird noch da sein, wenn längst keine Menschen mehr leben.
    Irgendwer spielt Klavier im Gemeinschaftszimmer, Für Elise . Wer auch immer es ist – sie kommt nicht über die ersten sieben Takte hinaus, und ich sehe auf meine Finger, die leicht zucken, als wollten sie übernehmen. So, wie ich im Orion für Gudrun übernommen hatte, als Polly mich zum Klavier geschoben hatte.
    Vincent …
    Sofort muss ich an ihn denken, sehe ihn vor mir. Sein geflecktes Fell, die gespitzten Ohren. Eins war eingerissen von einem Kampf. Ich durfte ihn nicht behalten. Wo mag er sein? Ob er lebt?
    Nie hab ich mich das bei Rosa gefragt: ob sie vielleicht noch gelebt hatte. Vielleicht hatten sie sie ja retten können? Aber bei Vincent frage ich es mich dauernd. Er war am Ende so krank gewesen.
    Einundzwanzig Uhr ist Nachtverschluss, die Stahltüren werden verriegelt. Um sechs Uhr morgens gehen sie wieder auf. Ich sitze am Fenster, sehe in den geneuntelten Himmel. Keiner weiß, dass Polly schon hier ist. Sobald die Stahltür sich schließt, wird sie kommen. Sie kann alles. Denn sie kennen dich nicht, Polly. Sie wissen nichts von dir.
    Wissen nichts von den Tagen, nachdem Ina und Carsten mit dem Möbelwagen gekommen waren und den Anker übernommen hatten. Gekentert. Als sie anfingen, alles auszubessern, zu überstreichen und grell auszuleuchten. Als sie das Haus von meiner Vergangenheit reinigten. Ich war aus dem Gasthaus geflüchtet, jeden Tag, zum Friedhof. Und wenn ich kleine Löcher in die Erde von Vaters Grab gebohrt und Bucheckern hineingelegt hatte, war ich ein wenig herumgegangen. An den jungen Gräbern entlang, die im vorderen Teil des Friedhofs lagen, in der Sonne. Sie waren frisch bepflanzt, die Wege geharkt. Die Steine glänzten in der Mittagssonne.
    Dann war ich in den hinteren Teil gewechselt, dorthin, wo die älteren Gräber lagen, wo kaum mehr Blumen, sondern Büsche auf den Grabstellen wuchsen. Dort war es nicht mehr sonnig, dort standen Platanen, deren Schatten die Gräber überwuchsen. Ich lief durch die Schatten, ich sehe es vor mir, als wäre es jetzt. Ich lief und atmete den blutvollen Geruch der Bäume, atmete diese hypnotische Stille, diesen fast schon verbrecherischen Lebenswillen der Natur überall. Und ganz hinten, dort,
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