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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten
Autoren: Hauke Rouven
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töten, der mich meines eigenen Schicksals beraubt hat.“
    Marius nickte. Aber ein Mörder, das war er doch nicht.
    „Ich habe Angst“, sagte er schließlich.
    „Das kann ich verstehen. Ist nicht leicht, so eine Entscheidung. Ich bin froh, dass ich sie nicht fällen muss.“
    „Warum hast du überhaupt damit angefangen?“
    „Ich konnte es nicht mitansehen, Marius. Ich sehe das irgendwie als meine Pflicht.“
    „Schöne Pflicht ist das. Mein ganzes Leben auf den Kopf stellen.“
    „Es ist nicht dein Leben, Marius.“
    „Und ich werde dann wirklich der Bräutigam sein?“
    Harald nickte.
    „Du wirst dann wirklich der Bräutigam sein.“
    „Soll ich es jetzt tun?“
    „Je früher desto besser, Marius.“
    Da fasste er sich ein Herz, schritt zum Speisetisch und nahm sich eines der Messer, mit denen die Kellner das Fleisch von den Knochen schnitten. Ohne auf irgendjemanden oder etwas zu achten, ging er durch die Tanzenden direkt auf das Brautpaar zu. Erst lachte Erika, als sie ihn erblickte, dachte vielleicht, er wolle nun auch tanzen, dann erschrak sie, als sie das Messer gewahr wurde. Sie schrie auf und bewegte sich nicht mehr. Felix’ Lächeln gefror auf seinen Lippen. Er blickte nun auch zu Marius, der ihn fast erreicht hatte.
    „Er hat ein Messer“, schrie jemand, da hatte Marius schon auf den Bräutigam eingestochen, in den Magen, durch die Rippen. Die scharfe Klinge zerstörte Felix’ Lungen, die sich nun mit Blut füllten, und einen Teil des Darms. Er hob seine Arme vor, eine verteidigende Geste ohne Kraft. Ein letzter Hieb führte tief hinein, verfehlte das Herz, zerschnitt die Aorta. Als Marius das Messer wieder heraus zog, spritzte das Blut aus einer breiten Wunde, befleckte das Kleid der Braut. Gierend nach Luft reckte sich Felix’ Körper empor, bis er schließlich in Agonie zusammenbrach und verkrümmt zu Boden fiel. Die Blutlache weitete sich unter dem leblosen Mann, noch immer pumpten die Adern Blut hinaus, aber lustloser als zuvor. Marius ließ das Messer fallen. Hände packten ihn. Erika schrie, ihr Mund in Todesangst aufgerissen: „Warum hast du das getan?! Ich habe doch nur mit ihm getanzt!“

Der Riss in der Mauer

    So oft stellen sie den Schriftstellern dieselbe Frage, dass ganze Bibliotheken mit den Antworten bestückt werden könnten. Woher beziehen Sie Ihre Inspiration? Oder: wie kommen Sie auf Ideen? Besonders in der Phantastik lässt sich diese Frage nicht leicht beantworten. Dennoch scheint es kanonische Klarheit darüber zu geben, dass ein Schreibender sich an der Realität bedient – der blasse Nachbar wird zum Vampir, die Gruppe Anzugträger zu Anhängern eines okkulten Ordens oder der Verein Kleinwüchsiger eine Horde Zwerge. Mich beschäftigt vielmehr die Frage, was zuerst da war. Das Außen oder das Innen? Menschen oder Kreaturen? Anders: wird der Unheimliche neben mir zu einem Dämon, weil ich es mir vorstelle oder weil dieser mich dazu inspiriert?
    Ich glaube, das Unheimliche war schon immer da, geboren aus den Aberglauben alter Völker, verschriftlicht in einer Hochkultur, die ihre Unschuld an die Ratio verlor. Es gibt sie nämlich, die andere Welt, in der jede Idee schon vor einem Denken vorhanden ist und die sich erst manifestieren muss, um von uns wahrgenommen zu werden.
    Der Schriftsteller bezieht seine Inspiration durch einen Zugang zur anderen Seite der Mauer unserer Wahrnehmung, durch einen kleinen Riss, den nur er bemerkte – sein Portal zwischen unserer und der anderen Welt. Dass ich mich hier auf die Phantastik berufe, mag auffallen, denn wo der Riss in unserer Wahrnehmung an Vehemenz gewinnt, offenbart sich in Geschichten, die bisher nicht erdacht oder so nicht geschehen sind.
    So lässt sich zwischen zwei Arten von Inspirationen unterscheiden, eben aus dieser oder jener Welt. Es obliegt jedem selbst zu entscheiden, welcher er sich lieber ausliefert, meins ist doch die Kombination von beidem. Warum das so ist, möchte ich an einem Beispiel zeigen und dann mag ich entdecken, wie nah sich beide Welten sind, weil sie aus demselben Nichts entstehen. Die Grenze zwischen real und unwirklich mag aufgehoben, wenn aus dem Riss ein Spalt, eine Öffnung wird.

    Unbestreitbar, dass außergewöhnliche Leben geführt werden, von Abenteurern und Künstlern, von Sportlern oder anderen Berühmtheiten, doch der ordinäre Mensch sitzt in seinem kleinen überschaubaren Reich, inmitten einer geordneten Struktur, einem immer gleichen Ablauf, dem Alltag. Hier nun muss der
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