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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten
Autoren: Hauke Rouven
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getan?
    Bisweilen gibt es diese Erklärung für Amokläufe, und was Matthias dort tat, an einem Werktag in Hamburg, kann sehr wohl als Amokfahrt bezeichnet werden, bisweilen heißt es, bei solchen Taten setzte etwas im Gehirn des Täters für eine gewisse Weile aus, sodass sie sich anschließend nicht mehr daran erinnern mögen, doch wir wissen, nach der Vorgeschichte, die ich erzählte, dass nicht etwas in Matthias Gehirn aus- sondern einsetzte, und dass dies aus jener Welt durch einen Riss in der Mauer zu uns gelangte. Natürlich vermag er sich auch daran nicht mehr erinnern bei seiner Vernehmung, denn natürlich wird er verhaftet. Kaum ist er ausgestiegen, kommen die ersten Einsatzwagen. Fassungslos sind sie alle, ob Passanten, Notärzte oder Polizisten, über die Spur der Verwüstung, die Matthias hinterließ, die zerschmetterten Körper in blutigen Lachen. Er gibt zu Auskunft, dass nicht er es gewesen sein könne und sich etwas anderes seiner bemächtigt haben muss. So viel dennoch versteht er. Der Rest wird von den Medien zelebriert, in Überschriften wie ,Die Amokfahrt von Hamburg – Irrer rast mit überhöhter Geschwindigkeit über den Bürgersteig und tötet vier Menschen, darunter ein Kind, zwölf weitere sind verletzt, Angehörige und Augenzeugen fassungslos, das Motiv ist noch unklar, sicher ist nur, dass es nicht verhindert werden konnte, weil es anscheinend keine Anzeichen gab'. Diese Nachrichten sind es, die mich inspirieren, doch für mich ist nicht der Vorfall zuerst da, sondern der schwarze Schwarm in jener Welt, er reicht mir Antworten, die es eigentlich nicht gibt.
    Matthias wird wegen fahrlässiger Tötung, nicht wegen Mordes, denn er tat es nicht vorsätzlich, zu mehreren Jahren Haft verurteilt und je nachdem, wie Experten dann seinen geistigen Zustand bewerten, wird ihm noch ein Aufenthalt in der Psychiatrie auferlegt. Der schwarze Schwarm wird sich in einer Nacht von ihm lösen und durch einen Riss in der Zellenmauer verschwinden, sich andernorts neue Wirte suchen, um weiter Unfassbares hinaus zu tragen. Dies war schon immer, dies bleibt.

    Es ist eine Grunddisposition des Denkens und des Fühlens, der ich ausgesetzt bin. Der schwarze Schwarm ist, wie ich oben schon sagte, immer anwesend, er rückt die Meldungen des Tages lediglich in das Licht, das mir Geschichten offenbart. Nicht nur Amokläufe bergen Geheimnisse, gleichwohl auch Kindermorde und Vergewaltigungen, ja, jegliche Eruptionen von Gewalt sind es, die sich auf solch einen Schwarm zurück führen lassen, aus jener Welt. Damit profanisiere ich aber nicht die Taten oder spreche Täter von ihrer Schuld frei, nein, jene Welt erhält täglich Zugang zu uns und der Mensch muss sich seiner Verantwortung stellen, wenn er von ihr beeinflusst wird.
    Was alles dahinter lauert, was schon erforscht und was noch nicht, bietet eine Unzahl an Geschichten, die doch in ihrem Grundtenor stets derselbe bleibt: ein Außen fällt über ein Innen her. Dies ist die Quintessenz aller dunkler Geschichten, die das Horror heißen, und sie bildet die Grundlage für ein Argument, der Trivialisierung dieses Genres zu widersprechen. Die gesamte Geschichte der Menschheit besteht aus einem Außen, das Inneres beeinflusst und dessen Macht kann in keinem anderen Genre als des Horrors besser transportiert werden, in Zerstörung, in Chaos, in der Furcht. Bleibt nur zu erwähnen, dass es gute, also literarische, und schlechte, also posierende, nicht gehaltvolle, Annäherungsversuche gibt. Wie in jeder literarischen Gattung.
    Der Riss in der Mauer, der unbestreitbar in jedem von uns und damit überall existiert, lässt hoffen, dass eines Tages die Erhabenheit des Horrors anerkannt wird. Wenn nicht durch die Kritiker, so doch durch den gemeinen Rezipienten.
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