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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten
Autoren: Hauke Rouven
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Schriftsteller düsterer Literatur ansetzen, um das Zwischenreich zu finden, die Grenze und Mauer zwischen dieser und jener Welt. So suche ich mir einen ordinären Menschen, nenne ihn Matthias, schätze ihn auf Anfang Vierzig, gutes Einkommen durch einen mittelständischen Job als Arbeitnehmer, Frau, (noch) keine Kinder, Eltern in anderer Stadt. Mir bleibt zunächst, seinen Alltag zu beschreiben, für den ich nicht viele Worte brauchen werde, denn Alltag zeichnet sich durch Weniges und Redundanzen aus. Auf Letzteres kann ich ja verzichten.
    Nach irgendeiner Ausbildung, kaufmännisch wohl, so viel ist heute kaufmännisch, verschlug es Matthias erst in diese dann in jene Firma, bis er seit nunmehr zwölf Jahren in einer weiteren festsitzt. Ja, dort erarbeitete er sich gar eine höhere Stellung, besseres Gehalt bei weniger Arbeit, doch mehr Verantwortung. Er ist ein Anzugträger, morgens würde ihm seine Frau, nennen wir sie Angelika, einen Schlips raus legen, passend zum ausgesuchten Hemd. Er ist viel in Meetings, redet mit für die Firma wichtigen Personen, trifft Entscheidungen, und abends dann und an Wochenenden verbringt er seine freie Zeit wie so viele andere seiner Zunft, mit Konsum und Bequemlichkeit. Zwei Mal im Jahr gönnt er sich Urlaub, am Strand, mit gutem Essen und Drinks, und mehr Sex mit Angelika, weil in anderer Umgebung auch die Fesseln des Alltags fallen und sie sich wieder spüren. Nur einen Moment lang gleichwohl, der so schnell vergeht wie er begann. Es ist ein Leben ohne Phantasie und genau darum braucht Matthias sie so sehr, denn ohne, wer weiß, er würde einen unbedachten, unwichtigen gesellschaftlichen Tod sterben. Aber dafür bin ich da und so kommt alles anders.
    In seinem tristen Dasein – auch wenn wohl nicht jeder Leser dies Leben als trist bezeichnen würde – gibt sich Matthias doch einer Leidenschaft hin, die so gar nichts gesellschaftliches an sich hat und doch vielleicht eine der stärksten Ausdrücke dieses bequemen Lebens darstellt. Er werkt und wirkt in und an seinem Auto, ja, manchmal spürt er gar, wie er sich in seiner Garage selbst verwirklicht, mit dem Vehikel als Symbol seiner eigenen Person, die er ohne gar nicht wäre. Und so sind es immer jene vierundzwanzig Sekunden am Tag, die er mit Vorfreude verbringt, wenn er von seiner Haustür zur Garage an einer Wand entlang schreitet, doch nicht irgendeiner Wand, die Mauer, die einen Teil des Hauses bildet, in dem noch drei weitere Nachbarn ihre Wagen parken. In diesen Sekunden absorbiert die Weiße der Mauer sein Denken und unwillkürlich erscheinen die Bilder der Straße dort, wie er fährt bei Tag und Nacht, die einzige Freiheit wohl in einem Gefängnis. Er geht an der Wand entlang ohne sie je zu beachten und er hält die Bilder, die sie ihm bietet für seine eigenen. Doch was er nicht weiß ist, wie ihn die Weiße Tag für Tag beobachtet und nur auf den richtigen Moment wartet, zu offenbaren, was sie wirklich ist. An welchen Tag oder welches Datum es ist, spielt keine Rolle, nur, dass es ein Arbeitstag ist, wie jeder andere, und wie immer verlässt Matthias gegen halb sieben in der Früh das Haus, seine Frau noch schnell zum Abschied geküsst, und wieder, der Weg an der Wand entlang. Diesmal jedoch bleibt er nach elf Sekunden stehen, denn er hat etwas bemerkt, von dem er weiß, dass er es nicht bewusst tat. Zum ersten Mal seit Jahren wohl dreht er seinen Kopf zur Weiße hin und inspiziert sie wie einen alten Freund, den er lange nicht gesehen hat. Und da ist es, was er bemerkte, ein kleines, neues Detail nur, doch unübersichtlich. In der sonst so makellosen Weiße zieht sich nun ein feiner Riss in der Mauer von unten hinauf zum Dach, wie eine mit Bleistift gemalte Linie teilt er nun, was sonst jeden Tag ganz war. Und Matthias begreift, von welcher Schönheit dieser Riss ist, wie unbeeindruckt von allem um ihn er sich hartnäckig und mühsam wohl in dieser Mauer manifestierte. Und Matthias glaubt, dass dies ein Anfang ist, weil er die Antworten hört, als Flüstern, als Summen, als Unartikuliertes aus einer Welt jenseits der Mauer, und der Riss sein Organ. Und Matthias lauscht, und rückt näher, bis seine Nase die Wand berührt.
    Dann lächelt er.
    Es ist nur ein Summen, doch nicht wie es der Mensch von Insekten kennt, dieses Summen ist tiefer und viel weiter von uns entfernt als alles, was wir kennen, eben aus jener Welt, so wie die Begriffe Dies- und Jenseits bereits alles trennen, was wir in unserem Gehirn verankert
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