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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten
Autoren: Hauke Rouven
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meiner Aussage Glauben. Sie würden seine Krankheitsgeschichte prüfen, teilten sie mir mit, und wenn sich erst einmal alles bestätigt fand, was ich sagte, dann wäre ich unverdächtiger als ein Schaf. Vorläufig allerdings sollte ich nicht die Stadt verlassen.
    Auf dem Rückweg zu meiner Wohnung klingelte mein Handy. Es war Anja, die sich fragte, wo ich steckte, weil sie mehrmals vergeblich an meiner Haustür geklingelt hatte.
    „Ich dachte, du hast noch was vor“, sagte ich.
    „Das hat sich erledigt. Wollen wir uns treffen?“
    „Ich kann jetzt nicht.“
    „Wieso? Was ist? Hast du keinen Bock mehr?“
    „Nein, Honey, natürlich habe ich Bock. Aber mir ist eben was passiert, das ich erst mal verarbeiten muss. Ich rufe dich morgen an, okay?“
    „Wie du meinst“, sagte Anja und legte auf. Verdammt, manchmal sind Frauen solche Egoisten. Ich suchte Anjas eingespeicherte Nummer auf meinem Display und rief sie zurück. So wollte ich meinen Tag nicht beenden. Armins Sturz hatte gereicht.
    Um viertel nach sieben war sie bei mir und blieb bis zum nächsten Morgen. Wir sind beide Studenten, müssen Sie wissen, und haben dementsprechend viel Zeit uns um andere Dinge zu kümmern als so Belangloses wie Arbeiten. Wir sind nämlich angehende Akademiker...
    Als wir unsere Bratkartoffeln gegessen hatten, wollte ich ein letztes Mal die Postkarte lesen, bevor ich sie verbrannte. Doch ich musste sie auf dem Weg zurück verloren haben. Egal, wo ich suchte (Hose, Tasche, Jacke), sie war nicht aufzufinden, was ich zunächst als positives Zeichen bewertete. Erst im Schlaf sollte der Horror von Neuem beginnen. Anja hatte ich nichts von dem Selbstmord erzählt und ich glaubte, dass es besser für mich sei, sie unwissend zu lassen. Wer weiß, welche Schuldgefühle mir diese Frau eingeredet hätte.
    In dieser Nacht hatte ich einen Traum, der mit Armin als Person nicht viel zu tun hatte, aber ganz gewiss von ihm beeinflusst worden war. Ich wurde von Postkarten gejagt, bedruckt mit Teich-Motiven von Monet. Das Wasser in ihnen war echt und ich wurde klatschnass bei dem Versuch mich gegen eine Karte zu wehren. Ich kämpfte, aber meine Fäuste landeten in den vor gemalten Wellen. Als sie mich umzingelt hatten, wachte ich auf.
    Nackt kuschelte ich mich an den warmen Körper neben mir und wartete, bis Anja erwachte. Mich bekümmerte, dass mich Armins Tod nicht bekümmerte, nicht, wie es sein sollte, wenn sich jemand vor meinen Augen in den Tod stürzte. Die Erfahrung war real, und trotzdem, mein Verstand verbannte die harten Tatsachen in hintere Regionen meines Gehirns und sie würden mich nur in meinen Träumen verfolgen. Wie beruhigend.
    „Was’n los?“ murmelte Anja, als sie meine offenen Augen erblickte. Ich starrte an die weiße Wand vor mir und hielt mit der rechten Hand meinen Kopf. Ich sah wohl aus wie ein depressiver Pessimist auf der erfolglosen Suche nach einem Neuanfang.
    „Nichts“, antwortete ich, rollte mich vom Bett und ging ins Bad. Nach einem ausgiebigen Frühstück und der ersten Zigarette am Morgen ging es mir nicht viel besser. Aber Anja war bei mir und ihre Unwissenheit tat mir gut.
    Als es wie gestern an meiner Tür klingelte und derselbe Postbote Einlass verlangte, verdrängte ,The stars at noon’ alle weiteren Gedanken. Schnell Pullover und Hose übergezogen, runter gestürzt und ein keuchendes „Hallo“ an den Postboten geschickt. Enttäuscht stellte ich fest, dass er wieder kein Päckchen in der Hand hielt. Stattdessen reichte er mir eine Postkarte.
    „Was soll das?“ fragte ich.
    „Post für Bauer“, antwortete er und verschwand. Die restlichen Umschläge hatte er schon in den vorgesehenen Schlitzen versenkt. Erstaunt blieb ich noch eine Weile im Treppenhaus stehen und starrte auf die Postkarte. Es war dieselbe, haargenau dieselbe, mit denselben Sätzen, derselben Schrift. Nur bei genauerer Betrachtung unterschied sie sich: Der Poststempel trug das Datum von heute.
    „Was ist denn los? Holger? Bist du noch da unten?“ rief Anja aus dem zweiten Stock. „Klar“, antwortete ich und stieg die Treppen wieder hinauf. Mit ihr würde ich das Problem nicht besprechen können, mittlerweile bezeichnete ich die zweite Postkarte als Problem, und ich brauchte den objektiven Rat eines Freundes. Später, als sie weg war, rief ich Tom an. Eine Lösung allerdings fand er nicht, nur eine Erklärung: „Die Postkarte, Holger, hat Armin wahrscheinlich zwei Mal abgeschickt, um sicher zu gehen, dass du mindestens eine
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