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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten
Autoren: Hauke Rouven
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haben. Das Summen, das Matthias hört, gefällt ihm und es beruhigt, ja, es schleicht sich derart sanft in sein Gemüt, dass er vergisst, auf dem Weg zu Garage zu sein. Nun legt er sein Ohr an die Wand, ganz nah an den Riss. Und er realisiert, es sind Hunderte, ein Schwarm, der dieses Summen formt, und es verändert sich, erst gar rhythmisch ist es sogleich von Pausen durchbrochen fern jeglicher Struktur, und dann wird es lauter, als bahnte sich der Schwarm durch einen Tunnel den Weg zu ihm, es wird so aufdringlich, dass Matthias sich von der Wand entfernt und auf den Riss starrt, als erwarte er es jeden Moment zu sehen, was auch immer dies Summen verursacht.
    In dem Moment, als er meint zu begreifen, das Summen ist nur in seinem Kopf und er bildet sich den Riss in der Mauer lediglich ein – ja, nichts hat sich wirklich geändert auf seinem Weg zum Wagen, denkt er – da kommen sie hervor, die Schatten, Dutzende, Aber-Dutzende drängen aus dem Riss in unsere Welt, schwarz wie die unendliche Leere des Alls, so winzig wie Insekten, in einem Schwarm tummeln sie sich vor Matthias, summen ihm zu, dass er nicht weiß, was zu tun, bis sie sich um ihn sammeln, auf seine Haut, durch seine Poren, hinauf in das Zentrum seines Körpers, das lenkt und empfindet, das wahrnimmt und entscheidet, das Gehirn. Kurz nur summt es in ihm, dann alles verstummt, um ihn nur der Lärm der Straße, und nur der Riss bleibt, als Erinnerung, dies war keine Einbildung. Unbeirrt geht er weitere zwölf Sekunden zum Tor der Garage, ein allzu kurzes Intermezzo, das sofort vergessen scheint, schon ist er auf dem Weg zu seiner Arbeit, Straßen entlang, die er auswendig kennt, ihre Vegetation und was sie alles säumt. Doch nicht wie sonst beruhigt ihn diese vertraute Monotonie der großen Stadt, diesmal wünscht er sich, es würde etwas passieren, und wenn nichts geschieht, dann kann er doch dafür sorgen, nur ein Mal über den Bürgersteig rattern, nur diesen einen Mann mit der Motorhaube bekannt machen, nur ein Mal Blut statt Regenwasser mit den Scheibenwischern weg schmieren – aber nein, er ist sich der Gefahr bewusst, erwischt zu werden, verurteilt, ins Gefängnis gesteckt, weil doch alles seine Ordnung haben muss, weil solche Menschen wie Matthias in seiner Fantasie nicht hierher gehören, ja, Ordnung der Dinge, nie hat er sie gehasst, so verabscheut wie in diesem Moment, und lenkt seinen Wagen über den Kantstein.
    Das erste Mal in seinem Leben, dass Matthias bemerkt, wie einfach es ist, auszubrechen. Von der vorgegebenen Straße, den Konventionen, den Regel. Wie ein Kind lacht er auf, als er den ersten Menschen mit seinem Wagen erfasst, das dumpfe Dröhnen beim Aufprall alles schüttelt und der Körper gegen die Windschutzscheibe knallt. Der Hinterkopf presst ins Glas, hinterlässt ein Spinnennetz aus Angebrochenem, direkt vor Matthias' Augen. Der Körper fällt zur Seite und schon der Nächste, und noch einer und noch einer, Schreie, Tumult, und Matthias drückt das Gaspedal weiter durch.
    Die meisten Passanten, gewarnt durch die Laute des Chaos, vermögen nun zu flüchten vor Matthias' Gefährt, das er sich laut brüllend vorstellt, wie das Monster, das er sein will, ja, es bedarf etwas aus jener Welt, um die Menschheit aus ihrer Starre zu reißen. Schon scheinen keine Ziele mehr auf der Straße, jeder war nun gewarnt, sie schließen sich in ihre Häuser, um zu schützen, was sie kaputt macht. So denkt Matthias, kommt doch hervor aus euren Löchern, schmeckt die Gnade eures Erlösers, nun, so weit ist er, dass er eine Botschaft in seinem Handeln sieht und weil das Schicksal so wohlwollend mit ihm spielt, bleibt ihm die Krönung seines Werkes nicht verwehrt. Es ist noch einige Meter von ihm entfernt, aber unverkennbar flüchtet ein Kind auf dem Fahrrad vor ihm, doch es weicht nicht zur Seite, sondern radelt so hektisch als glaubte es, vor Matthias' Macht zu entkommen. Er fährt vielleicht hundert pro Stunde, als er das Kind erreicht und dem Hinterrad einen harten Stups gibt, dass sich das Fahrrad von Boden hebt und nach vorne schleudert, das Kind vom Sattel, landet vor seiner Schnauze. Matthias lenkt so, das der linke und rechte Reifen zugleich den Körper erfassen. So schnell nun alles vorbei, Matthias bremst, er weiß, dies war sein letztes Ziel. Als er aus dem Wagen steigt und sich die Spur der Verwüstung besieht, stellt sich ihm eine Frage, die er ganz leise schon vernommen hatte, als er über den Kantstein fuhr: was habe ich
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