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Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren

Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren

Titel: Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Autoren: Alison Sinclair
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erinnern, warum er sie für bedeutungslos und zugleich für äußerst wichtig hielt.
    In jenem ersten Jahr hatte er nicht viel Zeit, um sich Gedanken zu machen. Um zu überleben, ging er auf Nahrungssuche und machte auf den überwucherten Hügeln, unter den Felsen und in den Gezeitentümpeln Jagd auf alles Essbare. Er improvisierte einen Haken und eine Schnur und ging mit zugegebenermaßen gemischtem Erfolg fischen. Aus einem Streifen, den er von seinen zunehmend zerlumpten Kleidern abgerissen hatte, fertigte er eine Schlinge und lehrte die gierigen Möwen, sich vor ihm in Acht zu nehmen.
    Er wusste von Anfang an, dass auf der Insel Nachtgeborene in einem Dorf lebten, das nur vom Meer und seinen viel bereisten Pfaden vor schwerer Inzucht bewahrt wurde. Wenn der Wind richtig stand, konnte er die Glocken von den Bojen, die in der Dünung außerhalb der Bucht schaukelten, und den herben Klang ihrer schartigen Warnglocken in der Stille des Sonnenunter- und -aufgangs hören. Manchmal vernahm er auch ihre Stimmen, wenn sie von ihren nächtlichen Fischfängen zurückkehrten.
    Ihm war jedoch nicht klar, dass sie auch von ihm wussten, bis er einmal mit seiner mageren Beute vom felsigen Strand zurückkehrte und ein eingewickeltes Päckchen auf seiner Schwelle fand: einen frisch gefangenen Fisch. Es folgten noch mehr Geschenke mit weiteren Fischen, Kartoffeln, besseren Fischhaken und Angelschnüren, einem Messer, einer verrosteten Axt, einem Stück Tuch und sogar einem nicht unterschriebenen Brief, in dem stand, wo er ein schäbiges, kleines Boot finden konnte, das er behalten durfte, wenn er es reparierte. Aber ihre Freundlichkeit und das Wissen, das man ihn nicht vollkommen verstoßen hatte, war das größte Geschenk von allen. Außer seinem Dank gab es nichts, was er seinen Wohltätern seinerseits hätte geben können, nicht einmal einen Namen. Bis zum Beginn des zweiten Jahres, als er hörte, wie die Dorfglocke Alarm läutete.
    Bevor er recht wusste, was er tat, lief er mit dem Messer im Gürtel und der Axt in der Hand den Pfad zum Dorf hinunter. Die am Strand versammelten Dorfbewohner waren zu verstört, um das plötzliche Erscheinen seiner ausgezehrten Gestalt mit dem stümperhaft geschnitten Haar und Bart sowie den zerlumpten Kleidern zu bemerken. Etwas war aus dem Meer gekommen und hatte zwei der Kinder gepackt, die am Rand des Wassers Krabben und Muscheln gesammelt hatten. Etwas …
    Er lief ans Wasser, bewegte automatisch die Hand, um sein Gewehr zu ziehen, während sein Sonar über das Wasser drosch. Doch nur die Wellen bewegten sich, und er hatte auch kein Gewehr … Er spürte, wie eine neue Kraft von ihm ausging, die erheblich mächtiger als sein Sonar war und das Wasser durchpflügte. Er fand die verblassende Lebenskraft eines Kindes und daneben etwas Hungriges. Nicht alle Schattengeborenen wurden von Magie genährt und hatten mit ihren Schöpfern den Tod gefunden. Er hob seine Axt und ließ sie niedersausen, um den Sand zu spalten, und er registrierte, wie die Magie Wasser und Knochen zerteilte. Der Wind trug den Geruch von Salzwasser und Blut heran, und mit einem Kräuseln der Wasseroberfläche legte das Meer wie ein gehorsamer Hund zwei kleine Körper auf den festgetretenen Sand zu seinen Füßen.
    Nach einigen Wochen erstarben die Gerüchte, und die Dorfweisen kamen überein, das Überleben der Kinder sei ein Geschenk der Mutter. Aber wenn die Kinder nun auf die Suche nach Muscheln und Krabben gingen, standen Frauen oder alte Männer Wache, sie wussten, dass sie die Großzügigkeit der Mutter nicht voraussetzen konnten. Die Wache war jämmerlich schwach, wenn sich tatsächlich irgendetwas Gefährliches in der Bucht aufgehalten hätte – er wusste, dass dem nicht so war –, aber er mischte sich nicht ein. Er war zu beschäftigt. Die Inselbewohner mochten sich zwar einem glücklosen und wahnsinnigen Gestrandeten gegenüber mildtätig zeigen, aber ein erwachsener Mann, der auch nur einen Funken Verstand hatte, musste zusehen, wie er sich selbst ernährte. Also war er emsig damit beschäftigt zu lernen, wie er sein kleines Boot abdichten konnte, wie man eine reißfeste Schnur flocht, den richtigen Köder auswählte, ein Netz wob, reparierte und von einem Boot auswarf, ohne ihm ins Wasser zu folgen. Er lernte, sich mit den Neckereien abzufinden, wie man denn auf Wellen seekrank werden könne, die doch so sanft sein, dass sie ein Baby in seiner Wiege eingelullt hätten – das behaupteten die Leute jedenfalls.
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