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Schattenfreundin

Schattenfreundin

Titel: Schattenfreundin
Autoren: Christine Drews
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Beifahrertür öffnete und Leos Rucksack herausnahm. Die Frau, die jetzt ausstieg, war ihr auf Anhieb sympathisch. Die dunklen Haare hatte sie hochgesteckt, was ihr hübsches rundes Gesicht betonte. Sie hatte, wie Katrin fand, einige Kilo zu viel auf den Rippen, aber das stand ihr gut. Sie trug eine schwarze Hose und eine weiße Bluse mit grauem Paisleymuster, die unter der Brust lässig geknotet war. Ihr Make-up war angenehm dezent. Das einzig Auffällige waren die knallroten Ohrringe in Erdbeerform, sie passten perfekt zum Lippenstift.
    Katrin hob Leo aus dem Auto. Sofort rannte er zu dem anderen Jungen. »Ben, Ben! Fußball spielen?«
    Der dunkelhaarige Ben nickte, und schon liefen die beiden Jungen in den Kindergarten.
    »Ich wusste gar nicht, dass Leo schon einen Freund gefunden hat«, sagte Katrin, während sie auf die Frau zuging und ihr die Hand gab. »Hallo, ich heiße Katrin Ortrup. Unsere Söhne scheinen sich ja bestens zu verstehen.«
    »Hallo, ich bin Tanja Weiler. Ja, Ben hat schon viel von Leo erzählt. Ich bin so froh, dass die beiden sich angefreundet haben. Wir sind noch ziemlich neu hier.«
    Katrin sah sie überrascht an. »Wir auch! Wir sind erst vor ein paar Wochen hergezogen. Ich bin zwar in Münster aufgewachsen, aber nach meiner Ausbildung bin ich sofort weg von hier.«
    »Genau wie bei uns«, sagte Tanja. »Umziehen mit Kindern ist ganz schön stressig, oder? Bei uns sind immer noch nicht alle Kisten ausgepackt.«
    Katrin winkte lachend ab. »Bei uns auch noch nicht.«
    Gemeinsam gingen sie in den Kindergarten, um sich von ihren Söhnen zu verabschieden.
    Wenig später standen sie wieder auf dem Parkplatz.
    »Hier um die Ecke ist ein neuer Spielplatz«, sagte Tanja Weiler, bevor sie in ihren Wagen stieg. »Wir können die Jungs ja mal spielen lassen, wenn du magst – oh, ich darf doch du sagen, oder?«
    »Ich bitte darum«, sagte Katrin und lachte. »Ja, lass uns mal auf den Spielplatz gehen. Das Wetter soll ja so schön bleiben.« Katrin blickte hinauf in den strahlend blauen Himmel, über den nur ein paar kleine weiße Wolken zogen. Sie seufzte. »Im Moment schaffe ich es noch nicht, aber in ein paar Tagen sieht die Welt hoffentlich anders aus, vor allem ordentlicher.«
    »Wir sehen uns ja bestimmt hier am Kindergarten«, sagte Tanja. »Dann können wir was ausmachen.«
    Katrin nickte und sah ihr nach, wie sie wegfuhr. Zufrieden machte sie sich auf den Weg. Leo hatte einen Freund gefunden, wie schön. Die Mutter von Ben machte einen entspannten Eindruck, und sie schien auch noch nett zu sein, keine von diesen Vorzeigemüttern, mit denen man nur über die richtige Ernährung oder den Fernsehkonsum von Kleinkindern reden konnte. Eine dieser Mütter hatte ihr tatsächlich mal ernsthaft Vorwürfe gemacht, weil Leos Gehirn dauerhaft geschädigt würde, wenn er jeden Abend die paar Minuten den Sandmann sehen dürfe. Als würde das automatisch Gehirnkrebs auslösen! Diese Wir-lesen-alle-Ratgeber-Muttis, die grundsätzlich alles richtig machten, konnte Katrin nicht ausstehen.
    Umso positiver war ihr Eindruck von Tanja. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen etwas Zeit freizuschaufeln und mit Tanja einen Termin auszumachen, damit die Jungen spielen und die Mütter sich besser kennenlernen konnten.
    Ihre Schritte wurden automatisch langsamer, nachdem sie vom Weg abgebogen war und durch das Unterholz ging. Sie musste an die Vertrautheit denken, die zwischen ihnen geherrscht hatte, und an das Grauen, das sie beide verband. Tieftraurig ließ sie ihre Hände durch das Gestrüpp gleiten, niedergedrückt von der Trauer um die verlorene Freundin.
    Was war ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie diesen Weg zum letzten Mal genommen hatte? Was hatte sie gefühlt? Hier hatte sie die letzten Minuten ihres Lebens verbracht, zum letzten Mal die frische Luft geatmet, das Zwitschern der Vögel gehört und das Rascheln ihrer Schritte auf dem Waldboden.
    Ob sie das wirklich noch alles wahrgenommen hatte? Oder hatte sie nur das Seil gespürt, das sie in ihren Händen hielt und das sie nur wenige Augenblicke später zu einer Schlinge knüpfen würde, die ihr für immer die Luft zum Atmen nehmen würde?
    Was dachte ein Mensch, wenn er zu dem Ort ging, an dem er sterben würde?
    Sie wusste es nicht.
    Jetzt stand sie unter dem Baum und schaute hoch zu dem Ast, an dem ihre Freundin über sechs Wochen lang gehangen hatte, bevor ein Jäger das fand, was übriggeblieben war von ihr. Ein Skelett in Jeans und
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